Rentenreform in Frankreich: Ein Joker gegen den Sozialstaat
Auch nachdem die Regierung leichte Zugeständnisse gemacht hat, gehen Streiks und Proteste gegen die Rentenreform weiter. Denn es geht um weit Grundsätzlicheres als das Pensionsalter.

Als am Samstag der Demonstrationszug mit Zehntausenden TeilnehmerInnen gerade in der Nähe der Bastille war, verbreitete sich die Nachricht in Windeseile: Die französische Regierung sei bereit, die Erhöhung des Rentenalters auf 64 Jahre aus der geplanten Reform zu streichen. Doch die Neuigkeit verpuffte rasch, der Protest ging mit Trommeln, Durchhalteparolen und Zusammenstössen mit der Polizei weiter. «Bis zum Ende der Reform!» ist seit sechs Wochen auf vielen Protestplakaten zu lesen. Den Streikenden geht es um Grundsätzliches: nämlich darum, was der Sozialstaat von morgen noch leisten kann – und welchen Sozialstaat sich eine Gesellschaft leisten will.
Politischer und begrifflicher Angriff
Das geplante Punktesystem nach schwedischem und deutschem Vorbild bedeutet vor allem eines: dass FranzösInnen vom ersten Tag im Erwerbsleben an auf Punktejagd gehen sollen, um im Alter eine angemessene Rente zu erhalten. Anstatt wie bisher auf Basis der bestbezahlten 25 Berufsjahre (im privaten Sektor) oder der letzten sechs Monate im Erwerbsleben (in den öffentlichen Diensten) eingestuft zu werden, soll künftig der Gesamtdurchschnitt der Einzahlungen ausschlaggebend sein. Insgesamt markiert die Reform einen Paradigmenwechsel hin zu neoliberalen Regeln. Das heisst für die Menschen: mehr und länger arbeiten und dazu möglichst privat vorsorgen. Das einheitliche Punktesystem sei alternativlos, beschwört die Regierung von Emmanuel Macron, weil das aktuelle System kompliziert, ungerecht und nicht mehr zeitgemäss sei. Besonders beharrlich wird auf die Privilegierung einzelner Branchen eingedroschen, und natürlich sei die Finanzierung in Gefahr.
Dabei sind die Rentenkassen derzeit gar nicht defizitär. Der französische Rat für Rentenpolitik hat konstatiert, dass sie über 127 Milliarden Euro an Reserven verfügen. Wenn die Regierung von einem angeblichen Milliardenloch in den Kassen spricht, dann scheint es, als habe sie mit diesem Geld andere Pläne. Und dem Anspruch der BeitragszahlerInnen, im Alter auf dem bisherigen Niveau weiterleben zu können, scheint die Legitimation entzogen worden zu sein. Man will sich anderen OECD-Ländern annähern, in denen allerdings die Quoten der Altersarmut weitaus höher sind als bislang in Frankreich.
Mit vierzehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gibt Frankreich mehr für seine RentnerInnen aus als andere Länder. Von liberaler Seite wird dieses Selbstverständnis aus ideologischen Gründen angegriffen, etwa auch auf begrifflicher Ebene: Anstatt von Beitragszahlungen («cotisation») wird von einer Last («charge»), die einen Wettbewerbsnachteil darstelle, gesprochen. Bei einer künftig steigenden Zahl von RentnerInnen wird eine Erhöhung des BIP-Anteils ohnehin kaum zu verhindern sein, aber was spricht denn eigentlich dagegen? Zur Finanzierung könnte eine gerechtere Vermögenssteuer dienen, eine solche hat Macron aber nach seiner Wahl eiligst abgeschafft. Auch höhere Beiträge wären denkbar, um den Generationenvertrag zu sichern. Oder mit anderen Worten: Warum sollen RentnerInnen, die nebenbei gesagt auch KonsumentInnen sind und bei ausreichender Kaufkraft zum BIP beitragen, zwangsläufig an Lebensstandard einbüssen?
Ein weiterer Mythos sind die viel beschworenen angeblichen Privilegien, die heute für bestimmte Berufsgruppen gelten sollen. Dabei betreffen sie nur sechs Prozent der Bezugsberechtigten. Und weil einige dieser Berufe dereinst verschwinden dürften, wird dieser Anteil sogar noch sinken. Was von Regierungsseite als schreiende Ungerechtigkeit präsentiert wird, ist nicht zuletzt aufgrund der durchschnittlichen Lebenserwartung gerechtfertigt, die bei ArbeiterInnen in gewissen Branchen mehr als sechs Jahre niedriger ist als im gesellschaftlichen Durchschnitt. Bei gleichem Renteneintrittsalter heisst das, dass diesen Menschen weniger Zeit bleibt, überhaupt eine Rente zu beziehen.
Höchste Ehren für den Staatsrückbau
Das Renteneintrittsalter galt während der zweijährigen Kompromisssuche zwischen den Sozialpartnern als rotes Tuch der Gewerkschaften, und dennoch tauchte es im ersten Entwurf des Reformprojekts auf. Viele sind sich sicher: Von Anfang an diente es als Joker der Regierung, um mit seiner Aufgabe die Streikenden zu beschwichtigen und Kompromissbereitschaft zu signalisieren. Die meisten Gewerkschaften geben sich damit aber nicht zufrieden. Letztlich steckt hinter allen Reformplänen der Regierung vor allem eines: Die private Vorsorge soll von der Ausnahme zur Regel werden. Einmal mehr zieht sich der Staat damit zurück, setzt auf individuelle Leistung statt Solidarität. Dass jüngst ausgerechnet Jean-François Cirelli von der französischen Regierung mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde, lässt tief blicken: Cirelli ist Manager des US-amerikanischen Vermögensverwalters Blackrock, und er berät Macron beim Rückbau des Staates.
Auf den Strassen aber entlädt sich weiterhin die Verzweiflung: Krankenpfleger, Lehrerinnen, Beamte oder Eisenbahnerinnen wollen nicht hinnehmen, dass ihnen Steuersenkungen als Garant für Aufschwung verkauft werden – während es der Staat versäumt, in die Bildung, die Infrastruktur oder das Gesundheitswesen zu investieren. Für eines zumindest scheint hingegen noch Geld übrig zu sein: Das Innenministerium hat kürzlich einen Grossauftrag für neue Gummigeschosse ausgeschrieben. Auch das ist eine Art, den Demonstrierenden entgegenzutreten.