Rentenreform in Frankreich: Die Stunde der Strasse

Nr. 4 –

Die ersten Demonstrationen gegen Präsident Macrons Prestigeprojekt waren riesig. Aber wie weit trägt die kämpferische Einigkeit? Drei Begegnungen, die Bruchlinien erkennen lassen.

Der Wind bläst eisig über die Place de la Bastille, die Scheiben der Cafés sind beschlagen, Menschen huschen in die Metroeingänge. Fast scheint es, als habe der Alltag die Pariser:innen zum Wochenbeginn wieder fest in der Hand – nur wenige Tage nachdem es an diesem so geschichtsträchtigen Ort wieder einmal gebrodelt hat. Tatsächlich aber könnte es in den kommenden Wochen noch heisser werden. In Frankreich braut sich etwas zusammen, die Rentenreform von Emmanuel Macrons Regierung mobilisiert die Französ:innen in Massen.

Wieder einmal geht es um die Rente; genauer gesagt um die Frage, in welchem Alter und zu welchen Konditionen den Menschen künftig Altersbezüge zustehen. Die Macron-Regierung, angeführt von Premierministerin Élisabeth Borne, hat angekündigt: Nicht mehr mit 62, sondern mit 64 Jahren. Und volle Bezüge soll es erst nach 43 Arbeitsjahren geben. Auch will sie spezielle Einzelsysteme für bestimmte Berufsgruppen abschaffen, etwa für Handwerker:innen und Staatsangestellte, die in ihren Augen unverhältnismässige Vorteile darstellen. Im Gegenzug soll die Mindestrente auf monatlich 1200 Euro angehoben werden.

Euphorie und Ernüchterung

Hugo Prevost hängt im Café Divan am Telefon, um seine nächsten Termine zu koordinieren. Der 23-jährige Wirtschaftsstudent arbeitet für die Student:innengewerkschaft Alternative. Er war sowohl bei der grossen Gewerkschaftsdemo vom Donnerstag vergangener Woche, wo bis zu zwei Millionen Demonstrierende gezählt wurden, als auch bei der von Jugendorganisationen und den Gelbwesten initiierten Samstagsdemo. «Die Stimmung am Donnerstag war ausgelassen, ein Meer von Demonstrierenden», sagt Prevost. Mitten in der Prüfungsphase herrsche an den Universitäten Aufbruchstimmung, und es sei schliesslich nicht das erste Mal, dass geschlossene Universitäten in Frankreich den Ausschlag geben könnten. «Es geht gerade erst richtig los», ist er sich sicher. Die Bewegung werde sich bis zum nächsten Streik, der für den 31. Januar angekündigt ist, noch besser organisieren.

Bei der Frage, ob nun ein Schulterschluss der studentischen Proteste mit der Gelbwestenbewegung angebracht wäre, zögert er keine Sekunde. «Unbedingt», sagt Prevost. Zwar würden sich dort Teile der Bevölkerung organisieren, die sich von den Gewerkschaften nicht repräsentiert fühlten, die andere Protestformen wählten. «Aber sie haben genauso ihren Platz, sie sind eine ernst zu nehmende Kraft», sagt der Studentengewerkschafter, «und wir brauchen sie.»

Das Gefühl des Gebrauchtwerdens kennt Jérôme Rodrigues schon lange nicht mehr. Er, der jahrelang Supermarktregale eingeräumt und als Spengler bei einem Energiekonzern gearbeitet hat, war von Anfang an bei der Gelbwestenbewegung dabei. Und vor genau vier Jahren, am 26. Januar 2019, wurde er auf der Place de la Bastille von einer Blendgranate getroffen und verlor dabei sein rechtes Auge. Er ist einer von Dutzenden, die aufgrund des massiven polizeilichen Gewalteinsatzes bleibende Verletzungen davontrugen. «An Verhandlungen über die Reform werden wir überhaupt nicht beteiligt, die Gewerkschaften holen uns nicht ins Boot», so sein ernüchtertes Fazit.

Dabei haben die Gelbwesten bereits damals, als sie ab November 2018 das Land lahmlegten, genau dies gefordert: dass die Demokratie neu gestaltet werden müsse, um auch den Unsichtbaren im Land endlich eine Stimme zu geben. Für Jérôme Rodrigues geht es bei den aktuellen Protesten denn auch um viel mehr als um die Rentenreform. Diese wecke aktuell zwar grossen Zorn, sagt er, «aber das Problem sind doch nicht unsere Renten von morgen, es ist unser Hunger heute». Er klagt über steigende Lebensmittel- und Benzinpreise, und dies bei Löhnen, die niedrig bleiben. «Glauben Sie mir, das ist nicht nebensächlich», sagt Rodrigues. «Den Menschen geht es einfach schlecht. Es ist Zeit, zu sagen: Wir können nicht mehr.»

Fertig «manif-merguez-négos»

Ob Arbeitskämpfe, Gelbwestenblockaden oder Klimabewegung: Als Chefredaktor des antikapitalistischen Magazins «Frustration» beobachtet Nicolas Framont seit Jahren, wie Proteste in Frankreich sich formieren und wieder abflauen. Und er kommt zum Schluss: Um Präsident Macron zu besiegen, müsse mit einer Routine gebrochen werden, die er «manif-merguez-négos» nennt: Man gehe eben zur Demo, esse ein Würstchen und warte auf Verhandlungen. Viel zu stark seien die Streiks in Frankreich von den Gewerkschaften institutionalisiert worden. War es letzte Woche anders? Framont verneint. Viele junge Leute, heitere Slogans und Sprechchöre, ein bisschen Hickhack mit der Polizei, ein paar Vermummte, die nahe der Bastille ein Schaufenster attackierten, Rauchschwaden.

Anstatt aus der seit Jahrzehnten grössten Massendemo in Paris wirklich etwas zu machen, habe man die Dynamik verschlafen. «Wir müssen radikaler werden», findet Framont. Zehn Tage Pause zwischen zwei Streiktagen seien einfach zu viele. Die Gelbwesten hätten damals vorgemacht, was sich mit vielen lokalen Gruppen bewerkstelligen lasse – aber dafür würden die Gewerkschaften einfach nicht genügend Leute erreichen. Auch an ein Revival der Gelbwesten glaubt er nicht, «doch die Wut dieser Menschen lässt sich gut für Widerstand nutzen, vielleicht unter einem anderen Namen», so Framont.

Die Gelbwesten seien vor allem medial diskreditiert worden, sagt Jérôme Rodrigues. Und er glaubt, dass ihre Stärke von einst zu ihrem Nachteil geworden sei: «Wir hatten damals mit Absicht entschieden, keine Anführer:innen zu bestimmen. Aber genau daran fehlt es heute», so Rodrigues. Dabei seien es noch immer sie, die mit den effizientesten Streikmethoden aufwarteten; er erzählt etwa von Gelbwesten, die bei Energiekonzernen angestellt seien und dort den Strom verbotenerweise auf günstigere Tarife umgeschaltet hätten.

«Der Streik muss den Menschen nützen statt schaden», sagt er. Optimistisch wirkt er trotzdem nicht. «Die Preiserhöhungen zwingen die Menschen, sich auf ihr Überleben zu konzentrieren. Sie treiben uns auseinander», so Rodrigues. «Derzeit schaffen wir es nicht, die Regierung zum Einknicken zu bringen.» Und trotzdem: Genau wie Hugo Prevost und Nicolas Framont wird auch er am 31. Januar wieder dabei sein, wenn der nächste grosse Streiktag ansteht.

«Die Reform wird dazu führen, dass sich mehr Menschen am Ende des Lebens als Arbeitslose wiederfinden», sagt Framont. Dabei lasse es der Reichtum des Landes problemlos zu, allen Bürger:innen Renten für ein Leben in Würde zu bezahlen – «man muss den Besitz nur umverteilen».