Von oben herab: Die Tage in L.

Nr. 5 –

Stefan Gärtner über ein mit Geld winkendes Dorf

Wer mit Familie in der Grossstadt lebt, kommt irgendwann, meist vor der Einschulung des ersten Kindes, an den Punkt, dass, ein Grundmass an Geldmitteln vorausgesetzt, über Wohneigentum nachgedacht wird. Wann, wenn nicht jetzt?, denkt er und denkt sie, und dann sehen sie aufs Sparkonto und auf den Lohnzettel, und entweder lassen sie es bleiben und zahlen die nächsten fünfzig Jahre Miete, oder sie finden sich im Umland wieder.

«Es sind nur 20 Minuten in die Stadt!», freut sich die Mutter des Kindergartenfreunds, und das Navi, das uns zum Antrittsbesuch leiten soll, verrät, es sind natürlich 35. Eine Wohnstrasse in einem Wohngebiet, und an einem wintergrauen Samstagnachmittag ist es so still, man würde eine Gabel fallen hören, wenn es hier irgendwo eine Restauration gäbe. Es gibt aber nur Reihenhäuser, Garagen und Autos sowie das nicht ganz ungruselige Gefühl, wieder in der Kleinstadt der Kindheit angelangt zu sein. Das Reihenhaus ist von innen prima, alles renoviert und hell und reichlich Platz, und natürlich hat man den stillen Gedanken, ob es das wert wäre, daheim war man ja seit Monaten nicht mehr im Kino und ist abends froh, auf dem Sofa noch zwei Stunden in ein Buch zu finden, und das könnte man in L. doch ganz genauso. «Auf gar keinen Fall», sagt die Gattin, und sie hat natürlich recht, und abends sehen wir «Yesterday», und als der Held des Films den fiktiven John Lennon in seinem einsamen Haus am Meer aufsucht, sind wir uns gleich einig: Wenn schon einsam, dann bitte so.

Einen Kompromiss aus diesen beiden Lebensformen bietet das St. Galler Örtchen Quinten am Walensee. Weils ein würkli kleines Örtchen ist, ist es im Aussterben begriffen und lockt nun Familien mit einer Prämie von 200 Franken pro Kind und Monat, bis zum 20. Lebensjahr des Kindes und bis zu einer Höchstsumme von je 20 000 Franken. Quinten ist nicht nur klein, sondern auch hübsch, ein Ausflugsziel, und es gibt keine Autostrasse dahin, sondern bloss einen Wanderweg (zweieinhalb Stunden) und eine Fährverbindung von Murks, halt: Murg SG herüber. Internet gibt es nur über Funk, und der solarbetriebene Fährkatamaran, der eine Art Taxiverkehr über den See sicherstellen soll, soll 2021 kommen. Politisch gehört Quinten übrigens zu Quarten auf der anderen Seeseite, und sowenig ich von Musik in theoretischer Hinsicht verstehe, würde ich doch sehr hoffen, dass der Postbus von Oktaven nach Quarten halbwegs häufig fährt. Oder wenigstens der von Obertertia!

Im letzten Dänemarkurlaub waren wir per Tagesausflug auf einem Inselchen, das so eine Art dänisches Quinten gewesen sein dürfte: eine Fähranlegestelle, ein Dutzend (Ferien-)Häuser, ein Kiosk, Ende, und vielleicht liegt es am Alter oder schlecht verdauter Astrid-Lindgren-Lektüre, dass ich bei solchen Ausflügen immer denke, dass es sich im Nirgendwo sehr gut aushalten liesse. Keine Hipster, keine Baustellen, keine Geländewagen (gibt ja keine Strasse, und wer jetzt denkt: Na, dafür sind Geländewagen doch da!, der hat ganz allgemein nicht aufgepasst) und natürlich immer gutes Wetter, Ausflugswetter nämlich, denn bei schlechtem Wetter unternimmt man keine Ausflüge. Allenfalls nach L., aber da macht man den Ausflug ja um Gottes willen nicht nach L., sondern um bei Kaffee und Kuchen Leuten, die bis eben NachbarInnen waren, beim Versuch zuzusehen, auf dem Land zu leben, nicht weil es da so schön ist oder die Luft so gut, sondern weil man nicht mehr Geld hat als das viele, das es selbst hier schon kostet.

Eben wollte ich sehen, wie weit es denn von meinem Schreibtisch nach Quinten wäre, und freilich konnte Google die Route nicht berechnen. Nach Quarten sind es 800 Kilometer, nach L. nur 20, und wenn Sie, liebes Publikum, Ihrer fabelhaften WOZ die Treue halten, dann sollte eine Grossstadtmiete aber drin sein.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.