Kost und Logis: Die unterschlagenen Schlagzeilen

Nr. 10 –

Ruth Wysseier schimpft mit ihrer Bubble

Dass mir auch im Jahr 2020 zum quadrillionsten Mal die neuste Zuckung des amerikanischen Dauerwahlkämpfers oder des Brexit-Premiers als weltpolitische Breaking News vorgesetzt wird, macht mich richtig hässig. Welche Zeitverschwendung! Welche Verdummung! Auf allen Kanälen, in sozialen, privaten, auch öffentlich-rechtlichen Medien, diese Sucht nach Fake-News-Aufregern, nach Bad Boys, nach AfD-Entgleisungen.

Natürlich wird das in meiner Blase verlässlich mit Abscheu kommentiert, analysiert und geteilt. Wieder und wieder, als wären wir nicht längst aufgeklärt über die Mechanismen von Populismus, Hass und Ausgrenzung.

Wieso befassen wir uns nicht mit dem Gegenteil? Wieso diskutieren wir nicht, wie kluge, menschliche, kooperative Politik funktioniert? Wo es sie gibt und wo sie unterstützt werden kann? Warum verstellt man mir die Sicht auf Leute, die es besser machen?

Etwa Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern. Eine Politikerin, die so vieles richtig machte nach den terroristischen Anschlägen auf Moscheen in Christchurch vor bald einem Jahr, die Mitgefühl lebte und binnen Tagen die Waffengesetze verschärfte. Wir sollten sie feiern, solange sie noch im Amt ist: Im September gibt es Neuwahlen, die Mainstreammedien unterstützen die Opposition. Die Prognosen sehen nicht so gut aus für ihre sozialdemokratische Partei, obwohl ein Grossteil der Bevölkerung Ardern wieder als Premierministerin wählen würde.

Oder Finnlands Sanna Marin, die bei ihrer alleinerziehenden Mutter und deren Freundin aufgewachsen ist. Sie steht einer Fünf-Parteien-Koalition vor, in der zwölf von neunzehn Ministerien von Frauen geführt werden. Vielleicht kein Zufall, dass gerade in diesen beiden Ländern junge Frauen das Sagen haben: Neuseeland war 1893 das erste Land der Welt, das das Frauenstimmrecht einführte, Finnland 1906 das erste in Europa.

Auch in Island, Norwegen und Dänemark regieren Frauen. Island hatte als erstes Land der Welt eine Frau zur Präsidentin und 2009 mit Johanna Sigurdardottir eine offen lesbische Frau als Regierungschefin. Über die heutige Premierministerin Katrin Jakobsdottir, Parteipräsidentin der links-grünen Bewegung, erfahre ich, dass sie ihren Master in isländischer Literatur über den Krimiautor Arnaldur Indridason geschrieben hat. Da hätten wir gleich ein Gesprächsthema, falls ich ihr mal begegne.

Die Namen der amtierenden Politikerinnen in aller Welt sind schnell gefunden. Will man aber mehr erfahren, erweisen sich die Wikipedia-Einträge zur Person meist als dürftig, zwei, drei Abschnitte und oben drüber die Bemerkung: «Dieser Artikel bedarf einer Überarbeitung». Also Leute, an die Arbeit! Beschreibt, kommentiert, analysiert die Arbeit dieser Frauen. Macht sie sichtbar – ihr dürft sie gern auch kritisieren. Nur bleibt mir mit dem Populisten-Trommelfeuer vom Leib, tamminomou!

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee. Bevor sie für diese Kolumne nach Politikerinnen suchte, war ihr keiner dieser Namen geläufig.