Biopolitik: Safer Sex in Ausnahmezeiten
Der Philosoph Giorgio Agamben warnt, dass der behördliche Kampf gegen die Pandemie totalitäre Züge annehme. Dem staatlichen Agieren sollten wir zumindest eine Biopolitik von unten entgegenstellen.
In Italien, Frankreich und Spanien gelten Ausgangssperren, die Schweiz richtet verbotene Zonen ein, und in Deutschland und Österreich werten die Behörden Handydaten aus, um Bewegungsprofile zu erstellen: Das, was derzeit ganz nüchtern in den Nachrichten vermeldet wird, hätte vor kurzem noch weit jenseits des in einer Demokratie Vorstellbaren gelegen. Je mehr jedoch die Coronakrise an Dynamik gewinnt, desto schrankenloser waltet die Exekutive, ohne dabei auf allzu viel Widerstand zu stossen: Kritik am staatlichen Agieren im epidemiologischen Ausnahmezustand scheint wenig opportun.
In Italien hat sich der Philosoph Giorgio Agamben dennoch bereits Ende Februar zu Wort gemeldet, um die stete Ausweitung staatlicher Befugnisse zu verurteilen. Unter dem wagemutigen Titel «Die Erfindung einer Epidemie» veröffentlichte Agamben in der Zeitschrift «Quodlibet» einen Text, in dem er die «rasenden, irrationalen und gänzlich unbegründeten Notfallmassnahmen» anprangerte. «Warum tun Medien und Behörden ihr Äusserstes», fragte er, «um Panik zu verbreiten und damit einen authentischen Ausnahmezustand hervorzurufen, samt tiefgreifender Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Suspension des täglichen Lebens in ganzen Regionen?»
Ausgehebelte Rechte
Agamben zufolge entfessle die Coronakrise die ohnehin in staatlichen Apparaten angelegte «Tendenz, den Ausnahmezustand als normales Paradigma des Regierens zu gebrauchen», um so individuelle wie kollektive Rechte auszuhebeln – vergleichbar mit dem «Krieg gegen den Terror», der zu einer Ausweitung polizeilicher und geheimdienstlicher Befugnisse geführt hat. Der Philosoph argwöhnt nun, dass es sich bei den Massnahmen gegen die Pandemie um eine Intensivierung dieser Politik handle: «Es scheint so», schreibt Agamben, «als hätte sich der Terrorismus erschöpft als Begründung für Ausnahmemassnahmen und dass nun die Erfindung einer Epidemie den idealen Vorwand liefert, diese grenzenlos zu erweitern.»
Allerdings steht Agambens Argumentation allein schon deswegen auf schwachen Füssen, weil er einfach unterstellt, dass es sich bei Covid-19 um eine normale Grippe handle. Dies dürften zwar vor ein paar Wochen noch vergleichsweise viele Leute angenommen haben, trotzdem lässt die Leugnung der pandemischen Bedrohung den international renommierten Agamben plötzlich wie einen Verschwörungstheoretiker auf Youtube erscheinen.
Wer ist hier der Feind?
Dennoch ist seine Analogie zwischen Terror- und Seuchenbekämpfung aufschlussreich: Der «Krieg gegen den Terror» steht vor allem deswegen für einen Paradigmenwechsel im staatlichen Handeln, weil er eine tendenzielle Verewigung des Kriegszustands bedeutet: Anders als bei einem regulären Krieg beginnen die Kampfhandlungen nicht mit einer formellen Kriegserklärung und enden auch nicht mit einem Friedensschluss. Zudem ist unklar, wer überhaupt der Feind ist: TerroristInnen streifen sich keine Uniform über, sondern schlagen, als normale BürgerInnen getarnt, unvermittelt zu. Für den Staat heisst dies, dass jeder und jede der Feind sein kann, und das für unbestimmte Zeit. Beim «Krieg» gegen eine Pandemie, von dem Staatschefs wie Emmanuel Macron nun explizit sprechen, verhält es sich entsprechend: Auch die Infektion kann stets neu aufflammen; und auch hier ist buchstäblich jeder Bürger und jede Bürgerin ein potenzieller Wirt des Virus. Beides erfordert eine dramatische Ausweitung der Kampfhandlungen, bis tief hinein in die Körper der Subjekte.
Letzteres verweist auf den Begriff der Biopolitik, mit dem einst Michel Foucault die Gestalt bezeichnete, die Macht und Zwang in modernen Gesellschaften annehmen. Foucaults weitläufiges Forschungsunterfangen spürte den Techniken der Macht in ihren Verästelungen nach, indem er Institutionen wie das Gefängnis oder die Klinik untersuchte. Im 1976 erschienenen «Der Wille zum Wissen» argumentiert er, dass für die Moderne eine Form der «Biopolitik» kennzeichnend werde, die sich durch die «Verwaltung der Körper» und die «rechnerische Planung des Lebens» auszeichne: Die Ära der «Biomacht» bringe zahllose Techniken zur Kontrolle der Bevölkerung hervor.
Das nackte Leben und das Lager
Agamben wiederum radikalisiert diese Überlegungen Foucaults; für ihn wird das auf seine biologische Existenz reduzierte «nackte Leben» zum Kristallisationspunkt souveräner Macht: Der Mensch erscheint nicht mehr als soziales Wesen oder als BürgerIn, sondern nur noch als blosser Körper, der zu verwalten ist. Eine extreme Ausprägung erfährt diese Biomacht in den Lagern totalitärer Regimes, deren InsassInnen eben nichts anderes mehr sind als aller Rechte beraubtes «nacktes Leben»: Im Lager herrscht der Ausnahmezustand in Permanenz. Vor diesem Hintergrund deutet Agamben die Massnahmen gegen die Pandemie: In Zeiten der Ausgangssperren seien wir alle «nurmehr das nackte Leben», schreibt er in einem vergangene Woche in der NZZ erschienenen Text, in dem er seine Überlegungen von Ende Februar weiterführt.
Erneut allerdings bagatellisiert er die objektive Gefahrenlage («Es kam in der Vergangenheit zu schlimmeren Epidemien») und blendet aus, dass Massnahmen zum Schutz gerade Älterer und Kranker nötig sind. Darauf wies auch der griechische Sozialphilosoph Panagiotis Sotiris in einer Kritik an Agamben hin: Angesichts des Fehlens eines Impfstoffs und wirksamer Medikamente könnten Massnahmen wie rigorose Quarantänen viele Leben retten. Dies gelte umso mehr, da vielerorts das Gesundheitswesen durch die Austeritätspolitik demoliert sei.
Anstatt das Schreckgespenst totalitärer Herrschaft zu beschwören, macht Sotiris deswegen das, was auch die sozialdemokratische Linke, die gerade angesichts möglicher Verstaatlichungen Morgenluft wittert, tun sollte: Er richtet den Blick nicht nach oben, zum Souverän, sondern nach unten, um dort nach den Möglichkeiten einer «demokratischen oder gar kommunistischen Biopolitik» zu fragen: «Sind kollektive Praktiken denkbar, die die Gesundheit der Bevölkerungen schützen und weitreichende Verhaltensänderungen beinhalten, ohne dass dabei Zwang und Überwachung ausgeweitet werden?» Es sei notwendig, so Sotiris, an die Stelle einer «individualisierten Angst, die jeden Sinn für sozialen Zusammenhalt zerstört», ein kollektives Bemühen um Solidarität zu stellen.
Kollektiver Druck ist nötig
Als historisches Beispiel führt Sotiris die Reaktionen auf die Aidsepidemie in den Achtzigern an: Damals hätten Gruppen wie Act Up in den USA den Kampf gegen die Krankheit nicht einfach der Regierung überlassen, sondern sich bemüht, der Stigmatisierung insbesondere Homosexueller («Strafe Gottes») etwas entgegenzusetzen, etwa indem sie darüber aufklärten, dass es sich bei HIV nicht allein um das Problem von «Risikogruppen» handle, sondern um eines, das alle angehe. Zudem propagierte Act Up gegen kirchlichen Widerstand die Praxis des Safer Sex und stritt dafür, dass allen der Zugang zu Medikamenten offensteht.
Der Safer Sex von heute wäre das verantwortungsvolle Befolgen des Gebots, seinen Mitmenschen gegenüber auf Distanz zu gehen: Solidarität zeigt sich gegenwärtig paradoxerweise als Vereinzelung, was aber nicht heisst, dass man sich nun nicht mehr um seine NachbarInnen scheren oder gar Waffen horten sollte; soziales Handeln setzt nicht zwingend physischen Kontakt voraus. Es existieren schon lokale Initiativen, die versuchen, Schwächeren in der aktuellen Krise beizustehen. Dazu kommt die Notwendigkeit, kollektiv Druck auszuüben: In Deutschland warnen die Gewerkschaften, dass die Pandemie vom Kapital genutzt werden könnte, um arbeitsrechtliche Errungenschaften zu kassieren. In Italien haben ArbeiterInnen bereits Fabrikschliessungen erstreikt, um der Virusausbreitung entgegenzuwirken. Und in den USA mahnt der Soziologe Mike Davis, dass die Leute gerade jetzt auf die Strasse müssten, um den Zugang zu medizinischen Dienstleistungen für alle und finanzielle Hilfe für die Working Poor zu erstreiten.
Massendemonstrationen in Zeiten von Corona? Man müsse eben zwei Meter weit entfernt neben der nächsten Protestierenden stehen, schreibt Davis im US-Magazin «Jacobin»: Das würde auch eindrucksvollere Bilder fürs Fernsehen produzieren.