Ein Traum der Welt: Manila macht dicht
Annette Hug hört einen Song aus einer anderen Quarantäne
Eine Freundin, die ich hier Rosalyn nennen will, postet seit Beginn des Lockdowns im Grossraum Manila immer neue Versionen von «Danny Boy». Das irische Lied bedeutet ihr viel, seit vor rund zwanzig Jahren ihr Sohn gestorben ist.
Das war ein gewaltiger Einbruch in ihrem Leben, und nicht der erste. Als junge Mutter war sie aktiv gegen die Marcos-Diktatur, wurde verhaftet und verbrachte mehrere Monate im Gefängnis. Danach schrieb sie für verschiedene Illustrierte. Mitte der neunziger Jahre lief alles auf eine frühe Pensionierung zu. Die Diktatur war überwunden. Eine Weile genossen Rosalyn und ihr Mann ein Rentnerdasein. Allerdings hatten sie keine Renten, sondern Kapital. Das investierten sie an der Börse. Wenige Jahre ging das gut, dann kam die Asienkrise. Alles Geld ging verloren. So begannen sie wieder zu arbeiten.
Rosalyns Mann geht heute auf die achtzig zu und ist noch immer als Konsulent im Bergbau tätig, er reist von Stollen zu Stollen. Das bereue er nicht, sagt er, nach der Pensionierung habe er die interessantesten Aufträge erhalten. Wenn er dann einmal wirklich pensioniert ist, möchte er ein Buch schreiben über das naturwissenschaftliche Wissen indigener Völker, wie es sich im Vokabular der nördlichen Dialekte der Insel Luzon ausdrückt. Im Moment ist er mit Rosalyn und der Familie ihres zweiten Sohnes zu Hause. Auf einem Video ist zu sehen, wie sie den Garten umgraben und Süsskartoffeln pflanzen.
Fast zeitgleich mit der Schweizer Regierung hat auch der philippinische Präsident Rodrigo Duterte drastische Massnahmen angeordnet. Die Zahlen der positiv auf das neue Coronavirus getesteten Personen liegen auf den Philippinen noch deutlich tiefer. Ziel scheint zu sein, die Ausbreitung in die ländlichen Regionen zu verhindern. Ist schon das Gesundheitssystem in der Hauptstadt schlecht auf eine Pandemie vorbereitet, so gibt es auf vielen der abgelegenen Inseln nur eine rudimentäre Infrastruktur.
Dreissig Millionen Menschen im Grossraum Manila sind jetzt abgeriegelt. Der vollständig privat betriebene öffentliche Verkehr wurde stillgelegt. Die Menschen sollen ihre Häuser nicht verlassen. Während die Regierung Polizei und Militär aussendet, um die Strassen und Plätze zu überwachen, bersten die sozialen Medien von privaten Hilfsaktionen: Die De-La-Salle-Universität öffnet ihre ungenutzten Unterrichtsräume als Schlafsäle für Obdachlose. Eine Fernsehstation, die Präsident Duterte gerade noch schliessen wollte, sammelt mit einem Marathonbenefizkonzert Geld für die Nahrungsmittelhilfe an arme Quartiere. Hunger ist schon in der ersten Woche ein Problem, denn mehr als ein Drittel der Menschen leben von der Hand in den Mund.
Rosalyns Sohn ist nach einem Verkehrsunfall gestorben. Er hätte gerettet werden können, wäre ein Krankenwagen zur Verfügung gestanden. Das Privatauto, in dem ihn seine Eltern zum Spital fuhren, steckte aber im Stau fest. So ist er verblutet.
Obwohl die Videos, die Rosalyn zurzeit postet, fast immer sonnige irische Landschaften zeigen, sind diese «Danny Boy»-Varianten etwas vom Unheimlichsten, das mir im Moment auf den Bildschirm kommt.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und geht im Moment wegen eines Hustens nicht aus dem Haus.