Ein Traum der Welt: Nachtschichten
Annette Hug bleibt wach mit philippinischer Literatur
Jetlag geht auch ohne Flugreisen. Schlafmangel löst einen Anflug von Euphorie aus, wenn ich fünf Nächte lang von drei Uhr früh bis zehn Uhr morgens an einem AutorInnentreffen in Manila teilnehme. Über Livestream und Zoom. In Manila geht das nicht anders, denn die täglichen Infektionen mit dem Coronavirus sind dort auf einem Rekordhoch.
Trotzdem – oder gerade deshalb – scheinen auch TeilnehmerInnen in Manila begeistert, dass sie live einem jungen Autor zuhören können, der markante Geschichten von Catanduanes vorstellt, einer Insel, die er selbst als «Garage der Wirbelstürme» bezeichnet. Dort fahren die Taifune ein, wenn sie vom Pazifik her den philippinischen Archipel erreichen, um dann etwas abgeschwächt zum asiatischen Festland weiterzuziehen. Letztes Jahr wurden auf der Insel Zehntausende von Menschen obdachlos, weil ein besonders starker Wirbelsturm ihre Häuser zerstörte und das Stromnetz für längere Zeit zusammenbrechen liess.
Die OrganisatorInnen des Workshops sind nervös, mein Livebeitrag könnte durch ein vorbereitetes Video ersetzt werden, denn das philippinische Internet ist generell schwach und die Regenzeit beginnt. Aber Napoleon Arcilla III erwischt in Catanduanes einen guten Moment, er kann sich einloggen und davon berichten, wie er sich schon als Jugendlicher gefragt hat, wo das Zentrum des literarischen Lebens liege. Im Hauptort der Insel? In Manila? Und er deutet an, dass er sich auch ganz andere Zentren vorstellen kann.
In den philippinischen sozialen Medien, die das virtuelle Treffen umbranden, wird dieselbe Frage laut wie in europäischen Netzwerken: Verschiebt sich «das Zentrum» nicht ganz generell? Nach dem Desaster des amerikanischen Truppenabzugs in Afghanistan?
Die Freude an den Texten und die konzentrierte Diskussion müssen sich noch gegen andere Schreckensmeldungen behaupten. Ronald Jaramillo Hilario, ein bekannter Künstler, ist diesen Monat am Virus gestorben. Wie viele andere Erkrankte haben ihn mehrere Spitäler abgewiesen. Sauerstoffspenden von FreundInnen konnten ihm eine Intensivstation nicht ersetzen. Die Regierung publiziert gleichzeitig Zahlen, dass die Spitäler nur zur Hälfte ausgelastet seien.
Der Austausch am Bildschirm wird wichtiger und wirklicher als Medienberichte und als der Alltag in Zürich. Ich gewöhne mich an die Mittagspausen beim ersten Tageslicht und an das Abdunkeln des Schlafzimmers, wenn sich draussen gerade die Strassenbeizen füllen. Eine Kurzgeschichte von Maria Amparo N. Warren bringt Wirklichkeiten weiter durcheinander. Sie schreibt von einer Autorin, die zum Geldverdienen das Leben eines Politikers fantastisch ausschmückt. Ihre Texte werden im Internet so platziert, dass Google schlechte Nachrichten über den Mann immer gleich in die Nähe völlig grotesker Geschichten rückt und die Nachrichten damit entkräftet. Die junge Autorin führt ein Doppelleben, um ihren Sohn durchzubringen, bis ihr die eigenen Nachtschichten genauso unheimlich werden wie das Leben des Politikers, das sie ausschmückt.
Meinen Anflug von Euphorie erkläre ich mir damit, dass der Workshop das Vertrauen in literarische Fiktionen und Berichte neu belebt. Und die Hoffnung, dass sich darin Realitäten ablagern, die in der Hektik der Nachrichten nicht auszumachen sind.
Annette Hug ist Autorin in Zürich, in Gedanken oft woanders. Der UP National Writers Workshop ist auf www.panitikan.ph dokumentiert.