Kost und Logis: Lockerungsübungen
Karin Hoffsten darüber, dass sie gar nicht möchte, was sie jetzt wieder dürfte
Ich bekenne offen, privilegiert zu sein, sehr privilegiert! Denn ich gehöre zur kleinen Minderheit, die in den letzten drei Monaten nicht nur nichts vermisst, sondern sich sogar wohlgefühlt hat. Ich lebe nicht allein, musste also weder auf analoge Gespräche noch Umarmungen verzichten, aber – o Glück! – auch keine Jugend beschulen. Der Lockdown brachte mich nur um verschmerzbare Teile meines Einkommens, weil mit öffentlichen Auftritten verknüpft, Homeoffice betrieb ich schon vorher. Und giggerig auf pulsierendes Nachtleben bin ich auch nicht mehr so.
Erst seit alles wieder anders wird, merke ich, wie gut mir die stillgelegten Wochen gefielen. Morgens aufwachen, ohne irgendwohin zu müssen. Wenn Sitzungen, dann nur per Video – also ungeduscht und mit der ersten Tasse Tee vor den Compi schlurfen. Spaziergänge machen, wann immer ich Lust habe. Und keine Sekunde darüber nachdenken müssen, was man wieder alles an Spannendem verpasst, während doch alle anderen dort sind.
Verabredet war ich trotzdem, im Wald, im Park, auf Bänken oder vor dem Restaurant in der Höhe, wo die liebenswürdige Wirtin trotz Lockdown die Tische und Stühle draussen stehen gelassen hatte – natürlich alles und überall mit zwei Metern Abstand.
Mit manchen FreundInnen hatte ich mehr persönlichen und elektronischen Kontakt als in den Jahren zuvor. Mit einigen entstand ein regelmässiger Mailaustausch über unsere Tagesaktivitäten. Meine Nichten, die untereinander kaum Kontakt gehabt hatten, lernten sich dank Whatsapp-Chat mit mir besser kennen. Und dauernd trafen auf allen Kanälen witzige Fotos, Videos und Zeichnungen ein, die dank der ungezähmten Kreativität all der Zu-Hause-bleiben-Müssenden in Umlauf kamen. Twitter entwickelte sich zu einem Versammlungsort, an dem ich mit Fremden ins Gespräch kam, als träfen wir uns am Dorfbrunnen. Selbst Einsichten barg die Krise. Als jemand twitterte: «Was ich wegen Corona gelernt habe? Es ist nicht die fehlende Zeit, warum ich Sachen nicht mache …», wusste ich: Das bin auch ich.
Am 11. Mai dann frohlockte es in der Sendung «10 vor 10» aus dem Shoppingzentrum Glatt: «Noch immer ist sie in der Luft zu spüren, die unbändige Lust, wieder rauszugehen und – ja! – einzukaufen!» Über die Offenheit, mit der hier der kollektive Lebenssinn des Landes zutage trat, erschrak ich ein bisschen, zumal ichs ja eigentlich noch nett fand, sich im Supermarkt nicht gegenseitig auf die Füsse treten zu müssen. Wie sehr ich das Abstandhalten inzwischen gewöhnt bin, wurde mir aber erst wirklich bewusst, als ich mich an einem Samstag wieder in die Zürcher Innenstadt wagte. Da kamen mir manche so nah, als wollten sie mir intime Bekenntnisse ins Ohr wispern.
Gut, ich werde mich sicher bald wieder an alles gewöhnen: Termine, Menschenmengen, Einladungen. Nur die drei Küsschen, das schwöre ich, kommen mir nicht mehr in die Tüte!
Karin Hoffsten wünscht allen anderen, dass auch sie einigermassen unbeschadet durch die Krise kommen.