Deutsche Fleischindustrie: Ausbeutung auf Steroiden

Nr. 27 –

Weil eine Fabrik bei Gütersloh zum Coronaherd wurde, sorgen die Arbeitsbedingungen in Deutschlands Fleischproduktion für Empörung. Die «Überausbeutung» migrantischer Arbeitskräfte dürfte aber auch diesen Sturm überleben.

Selten stand eine ganze Branche so stark im Gegenwind wie aktuell die deutsche Fleischindustrie. Im Zentrum steht dabei der Konzern Tönnies, an dessen Hauptsitz in Rheda-Wiedenbrück in Nordrhein-Westfalen sich mehr als 1500 ArbeiterInnen mit Covid-19 infiziert hatten. SPD-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kritisierte im ZDF die «Ausbeutung von Menschen aus Mittel- und Osteuropa», die jetzt zu einem allgemeinen Gesundheitsrisiko werde. In der ARD-Talkshow «Hart aber fair» sprach Pastor Peter Kossen, der sich seit Jahren gegen die Arbeitsbedingungen bei Tönnies engagiert, von «moderner Sklaverei».

Die Branche, die jetzt in der Kritik steht, ist für Deutschland von zentraler Bedeutung. Musste Fleisch vor gut zwanzig Jahren noch importiert werden, um den heimischen Markt zu sättigen, ist man mittlerweile der fünftgrösste Fleischexporteur der Welt. Der Umsatz der deutschen Schlacht- und Fleischverarbeitungsindustrie hat sich seit der Jahrtausendwende mehr als verdoppelt. Und ganz an der Spitze steht die Unternehmensgruppe Tönnies, die im vergangenen Jahr mit 7,3 Milliarden Euro Umsatz ein Rekordergebnis erzielen konnte.

Kein Ausnahmezustand

Das Geschäftsmodell von Fleischriesen wie Tönnies beruht auf einer enormen Ausbeutung der Beschäftigten. Den in Deutschland geltenden gesetzlichen Mindestlohn von 9,35 Euro pro Stunde unterläuft die Fleischbranche durch zwei Mechanismen. Zum einen berichten Beschäftigte immer wieder von unbezahlten Überstunden in extremen Ausmassen: Statt acht Stunden pro Tag arbeiteten die Betroffenen regelmässig mehr als zehn oder zwölf Stunden, einige berichten sogar von sechzehn Stunden. Eine andere Möglichkeit, den Lohn durch die Hintertür zu senken, bietet die Unterbringung: WanderabeiterInnen werden unverhältnismässig hohe Abgaben in Rechnung gestellt. Da kann ein Bett in einem Zehnerzimmer schon mal 200 Euro oder mehr kosten, die dann direkt vom Lohn abgezogen werden.

Gemäss Schätzungen des Deutschen Gewerkschaftsbunds sind vier von fünf Beschäftigten in der Fleischindustrie bei Subunternehmen angestellt. Diese schliessen einen Vertrag mit einem Auftraggeber, in diesem Fall Tönnies, über die zu erbringende Arbeitsleistung, etwa eine bestimmte Anzahl geschlachteter oder zerlegter Tiere. Diese Form der Anstellung ist innerhalb des rechtlichen Konstrukts des Werkvertragssystems möglich. Rein arbeitstechnisch sind dabei die Grenzen zur Leiharbeit fliessend. Während LeiharbeiterInnen aber formal direkt ihre Arbeitsleistung zur Verfügung stellen, ist es bei den WerkvertragsarbeiterInnen ein fertiges Produkt. Letztere stehen in der betriebsinternen Hierarchie in der Regel also unter den LeiharbeiterInnen, und unter der Stammbelegschaft sowieso.

Und nicht nur der geringe Lohn prägt den Arbeitsalltag der WerkvertragsarbeiterInnen. Bereits im vergangenen Jahr hat das Land Nordrhein-Westfalen in 26 von 30 kontrollierten Betrieben teils gravierende Verstösse gegen Arbeitsschutzvorschriften festgestellt. Die aktuellen Coronaausbrüche deuten darauf hin, dass sich seitdem nicht viel geändert haben dürfte.

Die Vorteile für Konzerne, die benötigte Arbeitskraft über Subunternehmen einzukaufen, liegen auf der Hand: Das Fleischkapital spart sich Personalkosten. Zudem gelang es in der Vergangenheit immer wieder, sich bei medial kritisierten Arbeits- und Wohnbedingungen der ArbeiterInnen mit dem Verweis auf die verantwortlichen Subunternehmen selbst aus der Schusslinie zu nehmen.

Nun sind Formulierungen wie «sklavenähnliche Zustände» oder «moderne Sklaverei» nachvollziehbare Versuche, die Missstände in der deutschen Fleischindustrie begrifflich zu fassen. Tatsächlich sind sie aber irreführend, denn Sklaverei ist ein juristisches Verhältnis, das dem einen Menschen erlaubt, einen anderen Menschen zu besitzen und über ihn zu verfügen. Formal haben die WerkarbeiterInnen bei Tönnies keinen solchen Rechtsstatus. Und es ist zu hinterfragen, ob der Sklavereivergleich politisch sinnvoll ist, suggeriert er doch einen Ausnahmezustand – und droht dadurch auszublenden, dass diese Zustände direkt auf das geltende Wirtschaftssystem zurückzuführen sind. So kommt die Wirtschaftsgeografin Christin Bernhold in einer Analyse für das Münchner Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung zum Schluss, dass in der deutschen Fleischindustrie die Probleme der kapitalistischen Produktionsweise wie durch ein Brennglas erkennbar werden.

Intensivierte Ausbeutung

Tönnies und Co. bedienen sich besonders effektiv des Grundprinzips der Profitanhäufung im Kapitalismus: der Ausbeutung. Dies nicht im Sinne einer moralischen Fehlleistung, sondern als ganz übliche Aneignung eines Teils einer erbrachten Arbeitsleistung durch ein Unternehmen. Der durch Ausbeutung entstehende Mehrwert ist die Basis für den Profit. Das gilt ganz grundlegend für jedes profitorientierte Unternehmen.

Mit «normaler» Ausbeutung sind aber die Arbeitsbedingungen bei Tönnies und Co. nicht zu fassen. Die ArbeiterInnen werden dort in einer spezifischen Weise ausgebeutet: Sie werden «überausgebeutet».

Der Begriff der Überausbeutung eignet sich, um das Allgemeine von Produktionsbedingungen mit dem Besonderen zu verbinden: Er bezeichnet eine intensivierte Ausbeutung der Arbeitskraft, indem erstens ein im Verhältnis zum gesellschaftlichen Durchschnitt oder zur gesellschaftlich ausgehandelten Untergrenze geringerer Lohn gezahlt wird. Und zweitens wird dieser durch eine Verlängerung der Arbeitszeit möglich. In der Fleischindustrie werden beide Möglichkeiten genutzt, wie Berichte von Beschäftigten bezeugen.

In Deutschland passiert dies auf der Grundlage der erwähnten rechtlichen Konstrukte – und nicht zuletzt auch auf dem Konstrukt Staatsbürgerschaft. Viele der ArbeiterInnen, die in den Fleischfabriken Tiere töten und zerlegen müssen, kommen aus Osteuropa. Hier zeigt sich deutlich das Zusammenspiel wirtschaftlicher Überausbeutung mit rassistischen Diskursen über Menschen aus Rumänien und Bulgarien: Ihnen wird unterstellt, sie kämen einzig nach Deutschland, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Solche Diskurse legitimieren die Überausbeutung ideologisch. Ergänzt wird dies durch die relative Entrechtung der ausländischen ArbeiterInnen in Deutschland: Sie haben kein Wahlrecht, können also selbst nur bedingt an politischen Prozessen teilhaben, um an der Situation etwas zu ändern.

Überausbeutung ist keinesfalls ein Phänomen, das auf die Fleischindustrie beschränkt ist: Vergleichbare Fälle sind auch in der Baubranche, der häuslichen Pflege oder der Landwirtschaft in den vergangenen Jahren immer wieder ans Tageslicht gekommen.

Nicht die erste Empörungswelle

Deutschlands regierende Parteien inszenieren sich gerne als zupackend. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus kündigte etwa an, jetzt den grossen Hammer herauszuholen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die Bundesregierung möchte noch im Juli ein Gesetz zum Verbot von Werkverträgen von Subunternehmen vorlegen. Und CDU-Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner lud öffentlichkeitswirksam zum Fleischgipfel und verkündete anschliessend erleichtert, dass die Fleischindustrie ihren Widerstand gegen ein Verbot von Werkverträgen aufgibt – und machte mit dieser Formulierung unfreiwillig deutlich, dass die Wirtschaft gegenüber dem Gesetzgeber die Hosen anhat.

Ob sich aber wirklich etwas ändern wird, darf zumindest stark bezweifelt werden. Das Ergebnis der letzten Empörungswelle über die Arbeitsverhältnisse in der Fleischindustrie war das vor drei Jahren verabschiedete «Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft», das faktisch kaum Verbesserungen für die ArbeiterInnen gebracht hat.

GewerkschafterInnen bezweifeln, dass das Werkvertragssystem so, wie es aktuell ausgestaltet ist, überhaupt rechtens ist. Kaum bestreiten lässt sich jedenfalls, dass die Branche sehr gut darin ist, dessen Schlupflöcher für sich zu nutzen. So ist letztlich auch nicht zu erwarten, dass der aktuelle Sturm der Kritik mittel- und langfristig eine Abkehr der deutschen Fleischindustrie vom Geschäftsmodell der Überausbeutung zur Folge haben wird.

Schweizer Fleisch: Flankierender Coronaschutz

Im Vergleich mit der Tönnies-Fabrik von Rheda-Wiedenbrück, in der über 6000 Personen arbeiten, macht der grösste Schlachthof der Schweiz einen fast winzigen Eindruck: 409 Angestellte hat der Betrieb der Coop-Tochter Bell im solothurnischen Oensingen. Da wirkt es relativ glaubwürdig, wenn Ronny Hornecker, der Verwaltungsratspräsident der Schlachtbetrieb Zürich AG, verneint, dass ein Coronaausbruch wie in Deutschland auch in einer Schweizer Fleischfabrik zu befürchten sei: «Die hygienischen Verhältnisse wie auch die Kontrollen sind massiv besser und höher», so Hornecker. Auch die Anzahl MitarbeiterInnen pro Fläche sei in hiesigen Fleischbetrieben kleiner.

Über den Fall Tönnies wundert sich Hornecker nicht, weil die Arbeitsbedingungen in Deutschland von einem «stetigen Preis- und Leistungsdruck» diktiert würden. Der «Einkaufstourismus» der SchweizerInnen bringe zwar auch die heimische Branche unter Preisdruck – aber es gebe eben auch «einen klaren Gesamtarbeitsvertrag mit Arbeitsbedingungen und Mindestlöhnen», so Hornecker. Dieser werde vom Metzgereipersonalverband streng kontrolliert.

Wenn es um das eigene Image in Krisenzeiten geht, kommt der Fleischindustrie insbesondere auch entgegen, was ansonsten vor allem von gewerkschaftlicher Seite betont wird: Die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit sind beim Schutz der Arbeitsbedingungen von immenser Wichtigkeit. So haben in hiesigen Fleischbetrieben die ArbeiterInnen meist eine Festanstellung sowie einen festen Wohnsitz. Die Arbeitsverhältnisse befristet eingestellter ArbeiterInnen aus dem Ausland haben aufgrund der benötigten Arbeitsbewilligung eine längere Dauer, und auch sie werden gemäss Gesamtarbeitsvertrag entlöhnt, wie Ruedi Hadorn, der Direktor des Schweizer Fleisch-Fachverbands, gegenüber der Unia-Zeitung «work» bestätigt hat.

Bei Bell, dem Marktführer unter den Schweizer Fleischproduzenten, räumt man zwar ein, dass sich durchaus Angestellte mit dem Coronavirus angesteckt haben. «Die Ansteckungen sind im privaten Umfeld erfolgt und standen nicht im Zusammenhang mit der Arbeitssituation in unseren Betrieben», schreibt das Unternehmen aber auf Anfrage. 

Cigdem Akyol