Arbeitsrecht: Aufruhr im Tieflohnparadies

Nr. 6 –

Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs hat Auswirkungen auf alle Leiharbeitsmärkte in der EU – vor allem aber auf Deutschland, wo es sich Gewerkschaften und Unternehmen in offenen Gesetzeslücken gemeinsam bequem gemacht haben.

«Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.» Diese unverblümte Aussage machte Gerhard Schröder 2005 beim Weltwirtschaftsforum in Davos, und sie steht wie nur wenige andere für die sieben Kanzlerjahre des Sozialdemokraten. Kern der in seiner Amtszeit vorangetriebenen Arbeitsmarktliberalisierung war die Schaffung eines Niedriglohnsektors von bis dahin ungekanntem Ausmass – mit Auswirkungen bis in die Gegenwart.

Mehr als zwanzig Prozent der Erwerbstätigen in Europas wichtigster Wirtschaftsmacht Deutschland arbeiten heute im Tieflohnsektor – deutlich mehr als im EU-Durchschnitt, der bei etwa fünfzehn Prozent liegt. Ein wesentlicher Faktor dafür ist die Leiharbeit, also die temporäre Beschäftigung von Arbeiter:innen, die nicht direkt bei einem Betrieb, sondern bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt sind.

1990 gab es etwa 100 000 Leiharbeiter:innen in Deutschland, 2016 waren es knapp eine Million – seither hält sich ihre Anzahl im hohen sechsstelligen Bereich. Zwei Drittel von ihnen verdienten 2022 offiziell unterhalb der Niedriglohnschwelle, 43 Prozent haben keinen deutschen Pass; nicht wenige davon kommen aus anderen EU-Staaten. In Krisenzeiten, etwa im Zuge der Wirtschaftskrise 2008 oder der Coronapandemie, kann sich die Zahl der in Leiharbeit Tätigen über Nacht drastisch reduzieren: Sie gehören zu den Ersten, die auf die Strasse gestellt werden, wenn Aufträge ausbleiben und Lieferketten stottern.

Eine absurde Situation

Vor wenigen Wochen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) nun aber die Rechte von Europas Leiharbeiter:innen gestärkt. Er stellte klar, dass ihnen ein angemessener Ausgleich zusteht, wenn sie schlechter als die Stammbeschäftigten eines Betriebs bezahlt werden. Was zunächst unspektakulär klingt, hat das Potenzial, das in Europa inzwischen weitverbreitete System der «Arbeitnehmerüberlassung», und insbesondere das deutsche Modell, umzukrempeln.

«Der EuGH hat am 15. Dezember eine bemerkenswerte Entscheidung getroffen», sagt Philipp Donath, Professor für Rechtswissenschaften mit Schwerpunkt Arbeitsrecht an der University of Labour in Frankfurt am Main. «Er hat klargestellt: Alle müssen gleich behandelt werden, und wenn dies nicht geschieht, muss eine angemessene Kompensation an anderer Stelle erfolgen. Ein ganz anderer Ansatz als der, der bisher in Deutschland verfolgt wurde.»

Der Fall, mit dem sich der EuGH beschäftigt hatte, kam aus Deutschland: Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hatte die Richter:innen in Luxemburg um Klärung gebeten. Ihm lag eine in mehreren Instanzen gescheiterte Klage einer Leiharbeiterin aus Süddeutschland vor, die 2017 als Kommissioniererin im Einzelhandel eingesetzt worden war und dort pro Stunde etwa 4,40 Euro weniger verdiente als die Stammbeschäftigten – denn für sie galt ein anderer Tarifvertrag.

Seit dem Erlass der Leiharbeitsrichtlinien 2008 gilt in der EU, dass ausgeliehene Beschäftigte punkto Arbeitsbedingungen und Entlöhnung den Stammbeschäftigten gleichgestellt sein müssen. Die Richtlinie liess aber Türen offen, um von diesem Grundsatz abzuweichen. Besonders relevant: Eine Ausnahmeregelung erlaubt es, durch Tarifverträge – vergleichbar mit Gesamtarbeitsverträgen (GAV) in der Schweiz – die Gleichstellung zu umgehen, wenn der «Gesamtschutz» gewahrt werde. Was «Gesamtschutz» bedeutet, blieb ungeklärt und, so Philipp Donath, unter Jurist:innen höchst umstritten.

Die Unklarheit hinterliess eine Interpretationslücke, in der sich so einiges entfaltete. In Deutschland nutzten Gewerkschaften gemeinsam mit Unternehmer:innen in der Zeitarbeitsbranche das Schlupfloch, um Tarifverträge abzuschliessen, die unter anderem das Prinzip der gleichen Bezahlung aushebelten, ausdrücklich erlaubt durch das seit 2017 in Deutschland geltende Arbeitnehmerüberlassungsgesetz.

So entstand eine absurde Situation: Normalerweise dienen Tarifverträge dazu, die gesetzlichen Mindeststandards für Beschäftigte zu verbessern und mehr Ferien, höhere Löhne und weniger Wochenarbeitszeit festzulegen. In der deutschen Leiharbeit ist es im Prinzip umgekehrt: Ohne die Tarifverträge würden die Löhne während der Zeit des Verleihs auf das Niveau der jeweiligen Stammbeschäftigten angepasst werden müssen. In der Regel hiesse das: deutlich nach oben. Denn im Durchschnitt sind die Leiharbeitstarife etwa um ein Drittel schlechter als jene der Stammbeschäftigten.

Es geht auch anders

Hier unterscheidet sich Deutschland von vielen anderen EU-Staaten, weshalb die Klage nicht zufällig aus Deutschland kam. Und die Auswirkungen des EuGH-Urteils dürften unterschiedlich gravierend ausfallen. Beispiel Frankreich: Auch dort hat sich die Arbeitnehmer:innenüberlassung seit der Einführung 1972 stark ausgeweitet, ihr Anteil ist ähnlich hoch wie in der Bundesrepublik, in manchen Jahren sogar höher. Doch eine Möglichkeit, Zeitarbeitende schlechter zu bezahlen als die Stammbeschäftigten, existiert hier nicht. Im Gegenteil. Leiharbeiter:innen in Frankreich erhalten eine sogenannte Prekaritätsprämie, auch weil sie – anders als in Deutschland – in der verleihfreien Zeit nicht bezahlt werden. Wenn der Vertrag beim Entleiher ausläuft, bekommen sie als Entschädigung stattdessen einen Zuschlag von zehn Prozent des Gesamtlohns.

In einigen anderen Teilen der EU gilt der Gleichstellungsgrundsatz, entweder weil es in Tarifverträgen für die Zeitarbeit so geregelt ist, wie etwa für Arbeiter:innen in Schweden, oder weil, wie in Polen, keine Extratarifverträge für die Leiharbeit existieren und damit die EU-Richtlinie greift. Also: gleiche Entlöhnung und gleiche Behandlung. In Grossbritannien, einem Land, in dem die seit 1973 existierende Leiharbeitsbranche kaum reguliert und sehr gross ist, hätte das jüngste EuGH-Urteil sicherlich grössere Auswirkungen entfalten können, doch greift wegen des Brexit dort kein EU-Recht mehr.

Wie das Beispiel Frankreich zeigt, lohnt sich Leiharbeit für Unternehmen selbst bei höherer Entlöhnung, weil sie «hire and fire» auch dort ermöglicht, wo Stammbeschäftigte Kündigungsschutz geniessen. Ein Beispiel dafür, dass Leiharbeit trotz Gleichstellungsgrundsatz Teil von Unternehmensstrategien ist, ist Amazon Polen: Der Versandriese liefert wegen des insgesamt niedrigeren Lohnniveaus vermehrt aus Mittel- und Osteuropa, vor allem nach Deutschland. 2021 waren knapp 19 000 Arbeiter:innen dort fest angestellt, hinzu kamen 23 000 Menschen, die über Zeitarbeitsfirmen an Amazon Polen ausgeliehen waren, mit vielen Nachteilen zwar, aber dem Recht auf gleiche Bezahlung. Anders als beim reichen Nachbarn Deutschland.

Jahrelanger Klageweg

Daran gab und gibt es in der Bundesrepublik scharfe Kritik, auch aus den Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) selbst. Mag Wompel, Journalistin und Betreiberin des Onlineportals «Labournet», formulierte es einmal so: «Die DGB-Tarifgemeinschaft trägt aktiv zur Spaltung der Belegschaften bei. Ebenso wie zur Zementierung von Niedriglöhnen.»

«Labournet» beliess es nicht bei Kritik, sondern beschritt den Klageweg. Gemeinsam mit dem renommierten Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler, Professor an der Universität Bremen, initiierte das Portal schon vor sechs Jahren eine Kampagne gegen Leiharbeit mit dem erklärten Ziel, die deutschen Tarifverträge für diese Branche zu Fall zu bringen. Auch Däubler sagt: «Niemand zwingt die Tarifparteien, diese Verträge abzuschliessen.» «Labournet» und er suchten Leiharbeitende, die bereit waren, gerichtlich klären zu lassen, ob der deutsche Zustand mit EU-Recht vereinbar ist und was der in der Richtlinie 2008 erwähnte «Gesamtschutz» der Arbeiter:innen nun eigentlich bedeutet.

Däubler brachte mithilfe befreundeter Anwält:innen rund zwanzig Klagen vor Gericht, von denen drei die Instanzen durchliefen und beim Bundesarbeitsgericht landeten. Eine davon ist jene der erwähnten Leiharbeiterin aus Süddeutschland, zu der das Bundesarbeitsgericht nun den EuGH befragt hat. Laut dem daraufhin gefällten EuGH-Urteil bedeutet «Gesamtschutz»: Gleichstellung oder Kompensation, falls ein Tarifvertrag niedrigere Löhne vorsieht. Die Richter:innen urteilten überdies, dass Tarifverträge künftig gerichtlich dahingehend überprüft werden können, ob sie diese Bedingung erfüllen.

Für die konkrete Klage heisst das: Sie geht zunächst zurück zum deutschen Bundesarbeitsgericht. Die Klägerin hat Chancen, die seit 2017 entstandene Lohndifferenz erstattet zu bekommen. Doch die Bedeutung des Urteils geht weit darüber hinaus. Die Klärung durch den EuGH stärkt Leiharbeiter:innen den Rücken, weil die Richter:innen klargestellt haben, dass auch «mit Tarifvertrag nicht einfach von der Gleichstellung des Leiharbeiters mit dem Stammbeschäftigten abgewichen werden darf, wie es bislang in der Bundesrepublik Praxis ist», sagt Wolfgang Däubler. Das sehe er ausdrücklich als Erfolg, das Urteil als grossen Fortschritt.

Was tun die Gewerkschaften?

Die DGB-Tarifverträge in der Zeitarbeit könnten damit, wenn mehrere Beschäftigte vor Gericht ziehen und Gleichstellung verlangen, für unwirksam erklärt werden, denn sie ermöglichen in den allermeisten Fällen schlechtere Bezahlung, ohne für angemessenen Ausgleich zu sorgen. Dabei hat die DGB-Tarifgemeinschaft gerade erst eine Tarifrunde für die Zeitarbeit abgeschlossen und dies noch Mitte Januar als «Durchbruch» bezeichnet. Gemäss Donath und Däubler ist darin das EuGH-Urteil allerdings noch nicht berücksichtigt.

Aus den DGB-Gewerkschaften kommen dazu bislang nur verhaltene Äusserungen. Einige, wie die Industriegewerkschaft IG Metall, wollen sich vor der weiteren Befassung des Bundesarbeitsgerichts mit dem Fall gar nicht äussern. Friederike Posselt, Referentin beim DGB-Bundesvorstand, sagt, man begrüsse, «dass der EuGH in Auslegung der EU-Leiharbeitsrichtlinie die Anforderungen an den Gesamtschutz klargestellt und konkretisiert hat». Da das Bundesarbeitsgericht nun «unter Zugrundelegung der EuGH-Rechtsprechung auf nationaler Ebene entscheiden muss», sei es aber noch zu früh für eine abschliessende gewerkschaftliche Positionierung.

Die Arbeitgeber der Branche, der Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister und der Interessenverband der Zeitarbeitsunternehmen, gaben schon am Tag des Urteils eine gemeinsame Erklärung ab: Jetzt sei es am Bundesarbeitsgericht, «sich schützend vor die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie zu stellen und die Gestaltung von Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge in der Zeitarbeit auch zukünftig zu ermöglichen», heisst es da, «und zwar rechtssicher, praktikabel und attraktiv.» Offenkundig ist die Sorge gross, dass die mit der DGB-Tarifgemeinschaft geschlossenen Verträge das Prinzip der gleichen Bezahlung und Gleichbehandlung nicht mehr verdrängen können.

Ob dies passiert? Die kommenden Monate werden es zeigen. Ganz sicher aber ist, dass das EuGH-Urteil für Unruhe sorgt und im Niedriglohnparadies Europas dieses Jahr einiges auf den Kopf stellen könnte.