Krawalle in Stuttgart: Schwäbische Völkerschau
Seit es vorletzte Woche zu nächtlicher Randale und zu Plünderungen gekommen ist, hyperventilieren Medien und Politik: Steht im deutschen Südwesten die Zivilisation am Abgrund? Ein Ortsbesuch.
Mitte vergangener Woche, ein paar Tage nach den aufsehenerregenden Unruhen, kam es in Stuttgart erneut zum Krawall. Wiederum rückte die Polizei an – allerdings nicht, weil Jugendliche marodierend durch die Einkaufsstrasse gezogen wären. Dieses Mal tobte der fraktionslose Abgeordnete Heinrich Fiechtner im baden-württembergischen Landtag: Von Schwarz bis Grün hätten fast alle Parteien «unser deutsches Volk von Ausländern überrannt sehen» wollen, kein Wunder also, würden jetzt «Allahu akbar» rufende Randalierer durch die Stadt ziehen. Dann ging der Rechtsradikale auch noch die Landtagspräsidentin Muhterem Aras rassistisch an – ehe er schliesslich von Beamten aus dem Saal getragen wurde.
Die Bilder von der Zwangsentfernung eines entfesselten Parlamentariers waren bezeichnend dafür, wie sehr die Debatte um den sommerlichen Riot in Stuttgart entgleist ist. Nachdem Samstagnacht vor knapp zwei Wochen mehrere Hundert zumeist junge Männer nach einer eskalierten Drogenkontrolle randalierend durch die Strassen gezogen waren, titelte die «Bild» beinahe triumphierend, dass die Hälfte der Festgenommenen «Ausländer» seien. Bei der AfD wie der SPD sprach man von «bürgerkriegsähnlichen Zuständen», die Lokalpresse wollte eine Blutspur entdeckt haben, «die sich vom Hauptbahnhof bis zur Marienstrasse» gezogen haben soll – was fast zwei Kilometer wären.
Auch in eigentlich sicherer Entfernung war man erschüttert: NZZ-Chefredaktor Eric Gujer bezeichnete die Vorgänge als «Angriff auf die Zivilisation», zuvor war im «Kölner Stadtanzeiger» von «Tätern, die höhnisch den Zivilisationsbruch zelebrieren» die Rede gewesen. Der publizistische Provokateur Henryk M. Broder spielte in einem Blogbeitrag noch direkter aufs «Dritte Reich» an und sprach von einer «kleinen Kristallnacht». Wen er in diesem Fall als Urheber des Terrors im Sinn hatte, musste der «Weltwoche»-Kolumnist erst gar nicht hinschreiben.
Treffpunkt im Freien
Eine Woche nach den Krawallen sitzt Luigi Pantisano auf einer Bank bei der Universität Stuttgart. Es ist ein sonniger Samstagmittag, gleich beginnt hier eine Kundgebung der auch im deutschen Südwesten angelangten Black-Lives-Matter-Bewegung. Der Stadtrat der WählerInnenvereinigung «Stuttgart ökologisch sozial» erzählt, dass der Campus 1928 Schauplatz einer Völkerschau war, bei der man aus den Kolonialgebieten entführte Schwarze Menschen präsentierte. Mehr noch als diese rassistische Veranstaltung vor fast hundert Jahren beschäftigt Pantisano aber die Gegenwart: «Anstatt über Ursachen zu reden, hat man lediglich Schuldige gesucht. Und wer die sein sollten, war schon nach ein paar Stunden klar: Migranten.» Dass die Hälfte der Verhafteten Deutsche waren, habe keine Rolle gespielt. «Seither lautet der Tenor von rechter und auch konservativer Seite wieder einmal: Wir haben ein Problem mit Migranten», sagt der Vierzigjährige.
Wenn man mit Leuten wie Pantisano spricht, die in Stuttgart leben, sagen die meisten, dass die Bürgerkriegsrhetorik völlig überzogen ist. Auch die Fakten belegen das: Vierzig Geschäfte wurden beschädigt, ein Teil davon geplündert, knapp zwanzig PolizistInnen meldeten sich verletzt. Sicher schlimm, zumal viele der betroffenen Läden, wie Pantisano berichtet, nicht etwa grossen Shoppingketten gehörten, sondern Familien mit Migrationsgeschichte: ein Headshop, eine Eisdiele, ein Goldankauf, ein Handyladen. Krieg sieht trotzdem anders aus.
Man hört aber auch, dass es in dem Park, in dem der Krawall begann, für PassantInnen schon seit geraumer Zeit ungemütlich werden konnte, wenn am Wochenende alkoholisierte Halbstarke herumpöbelten. Genau an diesem Ort prallen die Widersprüche der Stadt direkt aufeinander: Hier stehen die Oper und das Schauspielhaus, Anlaufstellen des Bildungsbürgertums und der «besseren Kreise». Auf den Wiesen davor haben sich zugleich aber immer schon viele junge Leute getroffen, StudentInnen neben Punks, viele People of Color, vor einiger Zeit campierten Fahrende hier.
Zudem handelt es sich um einen Ort, an dem sich begutachten lässt, welche Prioritäten die Stuttgarter Politik setzt. Derzeit wird die Sanierung der Oper diskutiert, Kosten: fast eine Milliarde Euro. Gleich um die Ecke ist die Baustelle des gigantischen Bahnhofsprojekts Stuttgart 21, von dem vor allem die Immobilienwirtschaft profitiert. Andere Investitionen wurden für weniger dringlich befunden. Vor ein paar Jahren strich der Gemeinderat die Mittel für ein Projekt, bei dem StreetworkerInnen nach den sich in der Stadt treffenden Kids geschaut hatten. Dabei sei dieses sehr erfolgreich gewesen, sagt Pantisano.
Der Stadtrat erzählt auch, dass es schon seit Jahren immer wieder Probleme mit jungen Leuten gebe, die ihre Wochenenden feiernd im Freien verbrächten, weil sie sich Clubs und Bars nicht leisten könnten – oder erst gar nicht an den Türstehern vorbeikämen, da sie nicht blond genug seien. Die Coronakrise habe die Situation verschärft: «Es gab schon in den Wochen zuvor Scharmützel, als die Polizei kam, um Abstandsregeln durchzusetzen, und das Aufsetzen eines Mundschutzes forderte. Dabei flogen aus der Menge Flaschen – und das hat sich dann mit der Zeit hochgeschaukelt.»
Im Visier der AfD
Berichte zu Polizeikontrollen hört man auch, wenn man bei der Migrantifa nachfragt. Die Gruppe in Stuttgart existiert seit einem Monat; bundesweit gibt es sie seit April, gegründet als Reaktion auf die rechtsterroristischen Morde von Hanau im Februar. Mersedeh Ghazaei, die in Stuttgart studiert und sich in der Migrantifa engagiert, findet die Debatte um die Krawalle «schwierig» – was nicht überrascht, immerhin nutzte die AfD-Vorsitzende Alice Weidel die Vorfälle umgehend für den Versuch, die Migrantifa zu kriminalisieren. «Das Hauptproblem ist aber, dass gar nicht mehr über die wirklichen Missstände, etwa das Racial Profiling, geredet wird, sondern jetzt alle Migrantinnen und Migranten über einen Kamm geschert werden», so die 23-Jährige. «Man nutzt diese eine Nacht, um jedem einzelnen Migranten eine Neigung zur Gewalttätigkeit zuzuschreiben, so als gehöre das zu seiner Identität.»
Auch Ghazaei sieht einen Zusammenhang zwischen Randale und Pandemie. In Stuttgart habe die Polizei während des Lockdowns «mit Geldstrafen und Anzeigen um sich geschmissen». Seit den Lockerungen könnten sich die Jugendlichen zwar wieder als Gruppe in der Stadt aufhalten. «Tatsächlich war es dann aber leider so, dass viel mehr Polizisten unterwegs waren als sonst», sagt Ghazaei, «und es fanden noch mehr Kontrollen statt: Es gibt Leute, die mehrmals am Tag kontrolliert werden, und wir haben auch von Dreizehnjährigen gehört, die nach Drogen durchsucht wurden.»
Die Behörden der Stadt setzen derweil auf noch mehr Polizei. An diesem Wochenende blieb es in Stuttgart ruhig: Die BeamtInnen waren mit einem Grossaufgebot unterwegs, inklusive Hunde- und Pferdestaffel. Er könne schon nachvollziehen, dass jetzt erst mal versucht werde, die Situation unter Kontrolle zu bekommen, sagt Stadtrat Luigi Pantisano. Längerfristig müssten aber die sozialen Ursachen angegangen werden – vor allem die Frage, wo denn Freiräume für junge Leute existierten, gerade für solche aus prekären Verhältnissen. «Solche Orte gibt es hier nicht, genauso wenig wie in vielen anderen Grossstädten», sagt er.
Dass mehr Polizei kaum zur Lösung dieser Frage beitragen wird, legt auch eine Sprachnachricht nahe, die im Netz kursiert. Sie stammt offenbar von einem Beamten, der während der Krawallnacht im Einsatz war. Zuerst beschreibt der Mann darin die Lage vor Ort, ehe er die Randalierer beschreibt: «Nur Kanaken.» Die Ermittlungen laufen – polizeiintern.