Schweiz–EU: Die spannendste Baustelle
Nur noch knappe zwei Monate dauert es, bis die Schweiz am 27. September über ihr Verhältnis zur Europäischen Union abstimmt. Erwartungsgemäss ist zu befürchten, dass in der Debatte über die SVP-Kündigungsinitiative viel von der Schweiz die Rede sein wird und die EU einmal mehr eine Leerstelle bleibt. Ein nebulöses Ausserhalb, aus dem angeblich eine starke Zuwanderung erfolgt, wie die BefürworterInnen behaupten, oder mit dem wir in Zeiten der Krise stabile Wirtschaftsbeziehungen unterhalten sollten, so die GegnerInnen. Im besseren Fall wird über die Personenfreizügigkeit als Freiheitsrecht diskutiert.
Gerade in diesen Tagen lohnt es sich aber, das Ausserhalb näher zu bestimmen. Denn der kopflose Austritt Grossbritanniens hat die EU nicht etwa geschwächt, vielmehr hat er eine vertieftere Zusammenarbeit angetrieben. Wenn Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Corona-Wiederaufbaufonds als «historisch», die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diesen als «Next Generation EU» bezeichnet, mögen das hochtrabende Worte sein. Doch der Fonds – erst im Mai skizziert, bereits im Juli am Gipfeltreffen der Regierungschefs in Brüssel mit Abstrichen beschlossen – zeigt: Da ist etwas in Bewegung.
Was also ist dieses Gebilde namens EU? In seinem Buch «Projekt Europa» hat der deutsch-britische Historiker Kiran Klaus Patel die Effekte der europäischen Integration untersucht. Er kommt zu überraschenden Schlüssen, die gängigen Erzählungen entgegenstehen: So etwa sei die friedensstiftende Wirkung der Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg weniger stark als später beim Fall der Berliner Mauer. Patels schöne Definition der Bauweise der EU: Sie erinnere ihn weniger an die sachlich-rationale Bauhausarchitektur als an ein «Gebäude mit runden und spitzen Bögen, mit zugemauerten Fenstern und neuen Durchbrüchen, mit Anbauten, Zerstörungen und Umnutzungen».
Kurzum: Die EU ist weniger glorios, als es die Staatschefs verkünden, aber halt auch um einiges nützlicher und flexibler, als die KritikerInnen eines Bürokratiemolochs in Brüssel gerne behaupten.
Zwar öffnet die EU, um im Bild zu bleiben, ihre Fenster Richtung Süden derzeit nicht. Vielmehr trägt sie mit den einzelnen Nationalstaaten – darunter auch die Schweiz – die Verantwortung für die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Doch anderswo sind erfreuliche Durchbrüche und Anbauten zu erkennen. Mit dem Corona-Wiederaufbaufonds wird die EU erstmals gemeinsam Schulden aufnehmen, die Mitgliedstaaten leisten dafür die Bürgschaft. Auch wenn die Verschuldung einmalig sein soll, geht die EU damit einen ihrer grössten Konstruktionsfehler an: die Einführung einer gemeinsamen Währung ohne gemeinschaftliche Finanzpolitik. Um die Schulden zu tilgen, wird bereits über EU-Steuern diskutiert, eine Steuer auf Plastikmüll, aber auch eine Digital- und sogar eine Finanztransaktionssteuer. Soll man neue Steuern begrüssen? Wenn das Kapital und die Grosskonzerne endlich transnational stärker belastet werden: unbedingt.
Zögerlicher geht es bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit voran. Auch wenn sich der ungarische und der polnische Premier nach der Verhandlung zu Hause als Helden feiern liessen: Tatsächlich wurde ein Mechanismus beschlossen, der finanzielle Zuschüsse an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien knüpft. Der Mechanismus ist bloss nicht besonders griffig, was das EU-Parlament noch ändern kann.
Die Coronapandemie hat uns die globale Verflechtung einmal mehr vor Augen geführt. Und gegen den grassierenden Nationalismus helfen sowieso nur Zusammenarbeit und Solidarität. Mit einer deutlichen Absage an die SVP-Kündigungsinitiative kann die Schweiz ein Signal für die internationale Kooperation aussenden. Bis dahin können sich die StimmbürgerInnen ihr künftiges Verhältnis zur EU für einmal auch neugierig überlegen, fern des verkorksten Rahmenabkommens von FDP-Aussenminister Ignazio Cassis. In der Schweiz ist Baustellengucken bekanntlich ein verbreitetes Hobby. Die EU ist gerade eine ziemlich interessante Baustelle.