RebellInnenrätsel: Die politische Tippelschickse
Sie brachte den Arbeiter auf die Bühne, der sich mit kampfbereiten Fäusten aus der Opferrolle befreit, verkümmerte als Blume im Hinterhof, inszenierte den verfolgten Juden und erschlug Holofernes (wobei manche Zuschauerin ahnte, dass hier in Wahrheit Adolf Hitler starb). «In jeder anderen Zeit», schrieb damals ein Kritiker, «hätte ein solches Talent sich sieghaft Bahn gebrochen, aber heute stehen Henker am Tor unserer Tempel»: Im Mai 1933 floh die begnadete Tänzerin vor den Nazis in die Schweiz.
Zur Welt kam die Tochter einer Schauspielerin 1902 in der westpreussischen Kleinstadt Schneidemühl (der Vater lebte von ihr unvermisst in Danzig). Den Lehrern galt die Heranwachsende als ungezogen und faul; mit ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn war sie aber wohl eher unbequem, denn sie schreckte auch vor einer Prügelei nicht zurück, wenn Mitschüler andere als «Judensau» beschimpften, und empörte sich vernehmlich, wenn umherziehende Sinti oder Roma schlecht behandelt wurden (deren Lebensstil sie ungemein faszinierte).
Bevor sie selbst auf Wanderschaft ging, absolvierte sie – vom Weltkrieg zur unerschütterlichen Pazifistin gewandelt – eine Krankenschwesternausbildung und lernte Balletttanz. Schon mit dreizehn hatte sie ihrem Tagebuch anvertraut: «Wenn ich die Schule hinter mir habe, will ich Tänzerin werden. Dann will ich einen Tanz tanzen, der ‹Der tote Soldat› heisst.» 1924 war es so weit: Sie tauschte Rock gegen Hose, schnitt sich die Haare und zog los. Die Erfahrungen mit der Not, aber auch mit der Solidarität der VagabundInnen verarbeitete die «Tippelschickse», wie sie sich nannte, zu Geschichten und Gedichten für die anarchistische Strassenzeitung «Der Kunde» und später in Romanen. Gefeiert – von Linken wie von Bürgerlichen – wurde sie jedoch bald wegen ihrer sozialkritischen Tanzdramen über Krieg und Tyrannei, Leiden und Hoffen der ArbeiterInnen.
Als die Nazis sie 1933 zur Nationaltänzerin küren wollten, brachte sie sich mit Mann und Kind nach Zürich in Sicherheit. Dort schrieb sie für NZZ und «Basler Nachrichten», brachte mit einem Agitpropchor antifaschistische Lieder auf die Bühne und begeisterte als Tänzerin an der Seite des Arbeitersängers Ernst Busch (unter anderem) im Zürcher Volkshaus.
Wer war die 1989 verstorbene «Käthe Kollwitz des modernen Tanzes», die zeitlebens den Verfolgten, Ausgestossenen und Heimatlosen verbunden blieb?
Wir fragten nach der deutschen Tänzerin, Schauspielerin und Schriftstellerin Elfriede Steckel alias Jo Mihaly (1902–1989). Ihre kurzen Tanzchoreografien trugen Titel wie «Blume im Hinterhof», «Legende vom toten Soldaten», «Der Knecht, der einen Acker bekam». «Der Kunde» (so das rotwelsche Wort für «wandernder Handwerksbursche, Landstreicher») war die «Zeit- und Streitschrift» der Internationalen Bruderschaft der Vagabunden. Mihalys Kinderbuch «Michael Arpad und sein Kind. Ein Kinderschicksal auf der Landstrasse» wurde 1933 von den Nazis verboten. Der Exilroman «Die Steine» erzählt vom harten Flüchtlingsleben in der Schweiz zwischen Gefängnis und Internierungslager. Mihaly war im Widerstand engagiert, wurde 1943 Vorsitzende der Kulturgesellschaft der Emigranten in Zürich und gründete 1945 den Schutzverband Deutscher Schriftsteller, Sektion Schweiz.