Kino-Film «Schwesterlein»: Kaputte Leben, intakte Fassaden

Nr. 36 –

Ein Schauspieler verliert seinen Körper. Diagnose: Leukämie. Sven (Lars Eidinger) ist ein Theaterstar in Berlin, seine Schwester Lisa (Nina Hoss) will ihn mit einer Transfusion retten. Die beiden verbindet mehr als nur das Blut, durch Svens Krankheit geraten die stabilen Leben der Geschwister ins Wanken.

Die Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond («La petite chambre») inszenieren in «Schwesterlein» das Zerbersten von Gewissheiten. Schauspieler Sven will vom Krankenbett aus nur auf die Bühne, und seine Schwester merkt plötzlich, dass sie sich ein anderes Leben wünscht als jenes, das ihr Mann Martin (Jens Albinus) an einem Eliteinternat in den Waadtländer Alpen für sie eingerichtet hat.

Der Kniff des Films ist, dass das Personal darin ein Stück weit sich selbst spielt. Angefangen bei Sven beziehungsweise Lars Eidinger: Beide treten an der Schaubühne als Hamlet auf, in einer Inszenierung von Thomas Ostermeier, der im Film einen Theaterregisseur verkörpert. Nina Hoss dagegen, ebenfalls Ensemblemitglied an der Schaubühne, spielt im Film eine Theaterautorin. Ihre Mutter wiederum ist eine Schauspielerin im Ruhestand, die «nur mit den Besten gearbeitet» hat, was genau so auch für ihre Schweizer Darstellerin Marthe Keller zutrifft.

Eine vielversprechende Anlage, doch leider lässt der Film Fiktion und Wirklichkeit nicht verschwimmen, sondern nutzt die Realität bloss als Kulisse für ein bürgerliches Trauerspiel. Die Figuren jetten von Berliner Altbauwohnungen zum Eliteinternat nach Leysin, eine Karriere und eine Ehe gehen vor die Hunde, die Fassaden dieser hermetischen Milieus bleiben jedoch unangetastet. Auch formal ist «Schwesterlein» mutlos: eine kurze Kamerafahrt auf dem Schlitten, ein Paraglidingflug und etwas Brahms, Schumann und Bach auf der Tonspur. Ganz schön viel bürgerlicher Tand. Und doch schickt die Schweiz «Schwesterlein» ins Oscar-Rennen.

Schwesterlein. Regie und Drehbuch: Stéphanie Chuat und Regie und Drehbuch: Véronique Reymond. Schweiz/Deutschland 2020