Renee Goddard: «Wo sie war, passierte etwas»

Nr. 46 –

Als Kind des KPD-Politikers Werner Scholem 1923 in Berlin geboren, kam sie 1934 nach England, wurde Schauspielerin, Theaterproduzentin, Drehbuchlektorin und ist vielfältig mit dem europäischen Kulturleben verknüpft. Die WOZ war bei der 86-Jährigen zu Besuch.


Mit 86 Jahren steckt Renee Goddard noch immer voller Energie. Wenn man ihr beim Tragen des Teegeschirrs helfen will, sagt sie: «Lassen Sie nur, ich war mal eine Nippy.» Nippy hiessen die Serviertöchter in der Lyons-Teestube an der Tottenham Court Road, während des Krieges. Darauf ist sie noch heute stolz, beinahe stolzer als auf anderes, was sie geleistet hat, weil man im vorderen Gastraum Cockney sprechen musste, den Dialekt der Ostlondoner Arbeiterklasse, und hinten die gehobenere Kundschaft mit gepflegtem Queen’s English bediente.

Als Renate Scholem geboren, als Reni Wiechert aufgewachsen, in England zu Renee Goddard geworden: Das reicht für ein paar Leben.

Renee Goddard erinnert sich vage, wie sie als Kind auf den Schultern von Leo Trotzki geritten ist. Sie muss damals drei Jahre alt gewesen sein. Trotzki, in Moskau schon halbwegs kaltgestellt, kam im April 1926 für eine Operation nach Berlin und nahm mit ihren Eltern Werner und Emmy Scholem und der kleinen Renate an der 1.-Mai-Demonstration teil. Bloss als Beobachter, wie er in seiner Autobiografie versichert.

Im letzten Zug nach England

Da lebte Renate schon bei ihren Grosseltern mütterlicherseits in Hannover, im Arbeiterbezirk Linden, und weilte zu Besuch in Berlin. Siebzehn Tage nach der Geburt war sie weggegeben worden. Werner Scholem, Journalist und Organisator, Fraktionsvorsitzender der KPD im Reichstag, konnte keine Ablenkung gebrauchen. Dem oberen jüdischen Mittelstand entstammend, hatte er sich schon als Jugendlicher zionistisch, dann sozialistisch engagiert, wurde 1920 Redaktor der KPD-Parteizeitung, Mitglied des Politbüros und Abgeordneter im deutschen Parlament. Doch 1925 fiel er mitsamt der «linksradikalen» Parteiführung um Ruth Fischer bei der unter Stalins Kontrolle geratenden Komintern in Ungnade. Als er im November 1926 eine Erklärung gegen die Unterdrückung der Vereinigten Linken Opposition in der Sowjetunion unterzeichnete, wurde er aus der KPD ausgestossen und schloss sich den unabhängigen Linken Kommunisten im Reichstag an.

In Hannover, bei den Grosseltern, hiess Renate Reni Wiechelt. Sie wurde zur Einschulung nach Berlin geholt, erkrankte jedoch an Magersucht und kam nach Hannover zurück. 1932 sollte sie eine weiterführende Schule in Berlin besuchen, doch wurden ihre Eltern kurz nach Hitlers Machtübernahme 1933 in «Schutzhaft» genommen. Wieder kehrte Renate nach Hannover zurück, sich ihrer jüdischen Herkunft nicht bewusst. Ein Jahr später stand sie als blond gezopfte Reni Wiechelt in einer Ehrengarde der Hitlermädels, als Hitler Hannover heimsuchte. Kurz darauf reiste sie zur Grossmutter väterlicherseits nach Berlin, die sie in eine Moabiter Gefängniszelle zum Vater führte.

Ihre Mutter war inzwischen freigelassen worden und flüchtete via Prag und Paris nach London. Im August 1934 wurde Renate, elfjährig, von der Grossmutter ebenfalls nach England gebracht. Dort nahmen jüdische Kreise sie auf, vor allem Naomi Birnberg-Bentwich, einst Sekretärin von John Maynard Keynes, die sich mit der zeitgenössischen Schulreform befasste und in karitativen Organisationen tätig war.

Die siebzehnjährige Renate aber wurde nach Beginn des Zweiten Weltkriegs aus dem Internat heraus als «Staatsangehörige einer feindlichen Macht» interniert; im Internierungslager erfuhr sie 1940, dass ihr Vater in einem deutschen KZ umgekommen war.

«Mein Vater ist 1933 zu stupid gewesen, um rechtzeitig zu fliehen», hat sie einmal gesagt. Der Schmerz ist bis heute spürbar: die frühe Zurückweisung durch den Vater. Dass er sich selbst durch seine Unvorsichtigkeit gefährdete. Der Zorn über die Mörder des KZ Buchenwald. Dazu die Überzeugung, dass Werner Scholem im KZ von Stalinisten verraten wurde. Diese Jugend hat sie nie die Erfahrung des Aussenseitertums vergessen lassen.

1941 aus dem Lager auf der Isle of Man freigelassen, heiratete sie 1943 einen befreundeten Emigranten, Gebhard Goldschmidt, der seinen Namen zu George Goddard anpasste, als er sich 1944 zur britischen Armee meldete. Nach verschiedenen Jobs begann Renee Goddard eine Ausbildung als Schauspielerin, engagierte sich bei der Theatergruppe der kommunistisch dominierten Free German League of Culture und der Free German Youth in London.

Zadek und Olivier

Dort traf sie Peter Zadek, der mit seiner Familie schon 1933 als Siebenjähriger nach England emigriert war und gerade eben, neunzehnjährig, eine Laufbahn als Theaterregisseur begann. «Ich verliebte mich instantly in sie», hat er in seiner Autobiografie «My Way» (1998) festgehalten. «Sie war ein sehr attraktives, sehr aktives Mädchen. Wo sie war, passierte etwas. [...] Renee war nicht gerade unkompliziert, aber sehr lebendig. Sie hat mich aus dem Pseudoenglischen und aus meiner Starrheit erlöst. [...] Eine Befreiung.»

Renee spielte ab 1947 in Zadeks ersten Inszenierungen. Der Bruch mit ihr, hat er eingestanden, war schnöd und abrupt. Renee blieb nicht nachtragend und kann vergnügt berichten, wie sie Zadek mit dessen späterer Frau Gitta Blumenthal verkuppelte. Noch in diesem Mai hat sie seine letzte Inszenierung am Zürcher Schauspielhaus, George Bernard Shaws «Major Barbara», besucht – kurz bevor Zadek am 30. Juli gestorben ist.

Von Goddard geschieden und von Zadek getrennt, heiratete sie den Schauspielerkollegen Michael Mellinger, tingelte durch die englische Provinz. Goddard muss eine vielversprechende Darstellerin gewesen sein. 1952 nahmen sie die Oliviers auf eine US-Tournee mit. Die Oliviers, das war das englische Künstlertraumpaar: Laurence Olivier, der Theater-Superstar, und Vivien Leigh, die Scarlett O’Hara aus «Vom Winde verweht».

Aus den USA zurück, spielte sie zwei Jahre im Ensemble des Westend-Hits «I am a Camera», jenes Stücks über die dreissiger Jahre in Berlin zwischen Kulturblüte und aufkommendem Faschismus, das später als «Cabaret» verfilmt zum Welterfolg wurde. Aber das unstete Theaterleben passte ihr nicht mehr so recht; sie begann, für Theaterproduzenten Manuskripte zu begutachten. 1954 bekam sie den Theatertext «Waiting for Godot» eines damals noch unbekannten Autors in die Hände und organisierte eine szenische Lesung – so gelangte der erste Beckett zur englischen Aufführung. Im gleichen Jahr wurde sie von Oscar Lewenstein zur Mitarbeit eingeladen, der damals am Royal Court Theatre neue britische Autoren aufführte, aber auch Bertolt Brecht nach England brachte.

Goddard war es, die Brecht 1955 in Ostberlin besuchte, obwohl sie wusste, dass der Name Scholem dort verpönt sein würde. Diesmal lehnte sie es ab, am 1.-Mai-Marsch in Ostberlin teilzunehmen. Dennoch gelang es ihr, einen Vertrag zwischen Brecht und Lewenstein vorzubereiten; 1956, kurz vor Brechts Tod, kam das Berliner Ensemble mit bahnbrechenden Inszenierungen nach London und «veränderte» das englische Theater, wie Zadek festgehalten hat: «Nach diesem Gastspiel konnte man nicht mehr so Theater spielen, wie man es vorher getan hatte.»

Erich Fried und Stuart Hood

Schon früh hatte sie Erich Fried in deutschsprachigen Emigrantenkreisen in London kennengelernt. «Hässlich, aber interessant», fasst sie knapp zusammen. Es gibt Liebesgedichte, die Fried über sie verfasst hat. «Angeblich», sagt sie etwas grollend, da ihr nicht alles passt, was er ihr zugeschrieben hat. Später, als Fried einen englischen Übersetzer für seine Gedichte suchte, lernte sie durch ihn 1964 den Schotten Stuart Hood kennen und lieben.

Das wäre eine Geschichte für sich. Der 1915 geborene Hood ist ein wichtiger, leider unterschätzter Autor, von dem in dem Zürcher Verlag edition 8 zwei übersetzte Bücher erschienen sind. «Ich habe viel von Stuart gelernt», hat Goddard im Gespräch gesagt. «Er war sehr intelligent, aber stupid.» Stupid, das Wort, das sie gelegentlich auch auf ihren Vater angewandt hat. Sie meint damit: ohne praktische Lebenserfahrung, auch ohne Sensorium für andere Menschen.

«Hood und Fried: Das war eine homoerotische Beziehung.» Goddard sagt solche Dinge, ohne mit der Wimper zu zucken, mit der Gelassenheit des Alters. So, wie sie Eifersuchtsdramen freizügig und witzig erzählt, in denen sie selbst nicht immer die vornehmste Rolle abgibt.

1964 wechselt sie zum Fernsehen, wird Drehbuchlektorin. Ab 1972 arbeitet sie als selbstständige Beraterin für Produktionsfirmen auf der ganzen Welt. Doch die Trennung von Hood macht sie längere Zeit krank. 1980 zieht sie nach München, als Beraterin für den britischen TV-Sender Channel 4, wirkt in TV-Produktionen als Schauspielerin mit. 1988 hilft sie beim Aufbau des European Script Fund der EU zur Förderung der europäischen Filmproduktion und wird dessen erste Direktorin. Filme wie «Orlando» und «Toto le héros» sind unter ihrer Ägide durch dieses Gremium gefördert worden, das heute European Media Development Agency heisst.

Und da ist auch noch Hanno Fry. Die beiden kennen sich seit über 65 Jahren. Fry emigrierte als Fünfzehnjähriger nach England. Schon 1943 begegneten sie sich in der Free German Youth. Aber damals heiratete Renate einen Herrn Goldschmidt und wurde Renee Goddard. «Leider», meint Fry lächelnd. Doch dann, 1980, trafen sie sich in München wieder. Er hatte als Physiker gearbeitet, zuletzt in der Raumfahrtindustrie; zusammen gründeten sie das English Theatre in Munich, das sie bis 1986 betrieben. «Wo Renee war, passierte etwas.» Mittlerweile leben sie, verheiratet und längst im Ruhestand, in Südengland.

Unvollendete Geschichte

Aktiv ist sie geblieben. Mit Fry setzt sie sich für «Grey matters» ein, lokale kulturelle und politische Aktivitäten in und um Nutley, Sussex, einem kleinen Dorf zwischen London und Brighton.

Die Geschichte aber hat sie nie ganz losgelassen. Nachdem sich der Hannoveraner Forscher Michael Buckmiller immer wieder um Werner Scholem bemüht hatte, ist dieser letztes Jahr auch aufgetaucht in Hans Magnus Enzensbergers Buch «Hammerstein oder Der Eigensinn». Enzensberger berichtet darin über General Kurt von Hammerstein, der sich, ursprünglich ein nationaler Militarist, nach der Machtübernahme gegen die Nazis stellte und 1943 am Widerstand gegen Hitler beteiligt war. Hammersteins Tochter, Marie-Luise von Hammerstein, hatte sich um 1928 der KPD angeschlossen, parallel zu einer Liaison mit Werner Scholem.

Tatsächlich hat Emmy Scholem, die Werners Zweitstudium nach 1926 durch ihre Arbeit als Buchhalterin finanzierte, laut ihrer Tochter unter den sexuellen Aktivitäten ihres Mannes in mehrerer Hinsicht gelitten: «Es war eine sehr komplizierte Beziehung.» Renee Goddard selbst, die ihn einst als schlechten Vater erlebte, hat mittlerweile Briefe von ihm gesehen, die er ihr aus der Untersuchungshaft schrieb und die ihre Mutter ihr als Kind vorenthielt. «Es sind rührende, wunderbare Briefe.»

So kann Renee Goddard etwas gelassener und stolzer auf ihren Vater zurückblicken. Im väterlichen Fotoalbum führt sie Bilder von Karl Liebknecht oder Karl Korsch vor. In ihrer Bibliothek erkennt sie sich in Gedichten von Erich Fried oder in einem Roman von Stuart Hood wieder. Daneben steht immer die eigene Leistung. Im Arbeitszimmer lagern Hunderte von Drehbüchern und Videos, die sie begutachtet hat. Soll sie sie fortwerfen? Aber sie sind doch auch Geschichte. Renee Goddard war da, also ist etwas passiert.