Erwachet!: Taube Zungen

Nr. 40 –

Michelle Steinbeck ist auf Echinaforce-Entzug

Vor zwei Wochen habe ich metaphorisch über den Covid als grusigen Mitbewohner geschrieben. Minuten später bekam mein realer Mitbewohner eine Nachricht vom BAG: Er musste «wegen Kontakt» in Quarantäne. Er wurde in sein Zimmer gesperrt und mit panischen Anfällen unsererseits bestraft. «Du hast die Kühlschranktür nicht desinfiziert! Ich habe es genau gehört! Was musstest du auch arbeiten gehen! Das hast du von deinem Schaffe-schaffe!» So schrien wir gegen seine geschlossene Tür. Und er, der als ehemaliger Steiner-Schüler eine naturgemäss stark ausgeprägte Abneigung gegen alles mit Reformhausgeruch hat, liess zaghaft verlauten: «Vielleicht sollte ich jetzt ein wenig Echinaforce nehmen?»

Das lüpfte dem Ganzen den Deckel. Schliesslich hatte ich im März vorsorglich und gewissenhaft meinen Wintervorrat leer gemacht, den ich jeweils zu Weihnachten als grosses Glas von meiner mondkalenderkundigen Grossmutter geschenkt bekomme. Jeden schönen Lockdownmorgen liess ich mir die scharfen Tabletten am Gaumen zergehen, deren Geschmack und Konsistenz mich in Wintertage aus der Kindheit katapultieren – etwa damals, als über dem Vogel-Müesli beim Mittagstisch über den einen Nachbar gespöttelt wurde, der sich die Zeit mit dem neuen «Internet» vertrieb.

Und jeden Lockdownmorgen wurde meine Zunge taub von den Dingern, und ich sah vor mir das Model in «10 vor 10», das sich an der Mailänder Fashion Week als eine der ersten Schweizerinnen den Covid geholt hatte. Sie sitzt auf ihrem weissen Ledersofa, streichelt eine haarlose Katze und sagt: «Es war nicht schlimm, ich hatte einfach diesen Geschmacksverlust.»

Vielleicht darum, aber vor allem wegen des Mitbewohners täglichen Spottens und Zitierens von «wissenschaftlichen» Studien, die den Verzehr von Grossmutters Apotheke als überteuerten Gugus beweisen, habe ich damals auf Nachschub verzichtet. Und nun das: Gerade wo der Teufel in der eigenen Wohnung sitzt, ist kein Knoblauch mehr da. Respektive: Die Zungen narkotisierenden Tablettchen sind ausverkauft, auf Ebay findet sich das letzte kleine (!) Glas für 40 000 Dollar, und der Hersteller gibt keine Auskunft, ob er mehr produzieren wird. Ich war mir sicher, dass meine Grossmutter noch einen Vorrat hortete, aber sie liess sich, Zerstreutheit und Schwerhörigkeit spielend, nicht auf meine Verzweiflung ein. Sie berief sich auf Doktor Steiner, der aus dem Jenseits predigt, dass wir uns ungeniert mit dem Virus vereinen und auf höherer Ebene versöhnen sollten. Ausserdem wollte sie wissen, wie sie sich ein Ebay-Verkäuferinnen-Profil anlegen könnte.

Schliesslich haben wir es gesund durch den Spuk geschafft. Nur der ehemals aussätzige Mitbewohner ist noch einigermassen traumatisiert. Zur Versöhnung haben wir ihm ein volles Gläschen Gugus geschenkt. Nun ertappe ich ihn manchmal, wie er sich heimlich eine Handvoll in den Mund stopft. Dann imitiere ich Doktor Steiner und gebe ihm noch zusätzliche traditionell-alternative Behandlungstipps wie «Lecken Sie Salz!» oder «Eurythmisches Lachen!». Er verzieht keine Miene und belehrt mich, dass A. Vogel ein Naturheilkundler und kein Steinerianer war. Ich lange einmal tief ins Glas und zitiere meine Grossmutter: «Da stirbst du wenigstens mit guten Vibes!»

Michelle Steinbeck ist Autorin. Bei dieser Folge kamen keine Mitbewohner zu Schaden.