Erwachet!: Neue Tradition/Sensation
Michelle Steinbeck bastelt Quarantänekalender
Widrige Umstände haben mich unlängst zu einer grossen Erfindung geführt, für die ich hiermit Patent anmelde. Für den Selbstgebrauch kam mir der Geistesblitz leider zu spät, aber er soll doch dem Rest der Gesellschaft von erfreulichem Nutzen sein. Denn in der heurigen Adventszeit ist die Laune vielerorts im Keller. Dies spiegelt sich treffend in der Saisonaktion der Migros: Grabkerzen, zum halben Preis.
In einer derart tristen Vorweihnachtszeit können die wenigsten etwas mit einem klassischen Adventskalender anfangen. Wer will schon die Tage bis zum explosiven Ausbruch des schwelenden Familienstreits zählen?
Nein, heutzutage ist etwas anderes gefragt. Freuen Sie sich auf eine neue Tradition, die unseren Zeitgeist trifft: den Quarantänekalender! Hinter jedem der zehn Türchen ist eine dem Anlass gebührende Überraschung versteckt: Hustentee, Schnupfenspray, Halsbonbons … Dabei ist dies nur die Standardversion. Ein guter Kalender ist personalisiert und flexibel, je nach Stärke und Dauer des Verlaufs werden mehr und grössere Türchen benötigt.
Inhaltlich sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Ich stelle mir Versionen für alle Bedürfnisse vor. Gerade in der Schweiz sehr beliebt wäre etwa ein alternativer Kalender mit rein anthroposophischen Präparaten und Demeter-Snacks. Der kommt natürlich einiges teurer als der herkömmlich schulmedizinische, dafür gibts für jeden Tag wertvolle Sprüche vom selbsternannten Doktor Steiner himself: «Sie schielen seelisch. Korrigieren Sie mit eurythmischem Lachen» (Tag 2). Oder: «Wenn Sie aus dem Norden kommen, ist ihr Gehirn wahrscheinlich zu weich. Lecken Sie Salz.»
Wer nur schwache Symptome und einen unverbesserlichen Optimismus hat, nutzt die Zeit für sich gerne, um noch balancierter und gelassener aus der Isolation zu steigen. Für solche Menschen ist der Stay-Positive-Kalender genau das Richtige: Meditationsanleitungen und Mantras («My immune system works perfectly») werden nur am Tag fünf unterbrochen von einem kleinen Hammer und einem Keramikset, das bei unkontrollierbaren Wutanfällen zertrümmert werden kann.
Für Fans von Whataboutismus gibt es den Reality-Check-Kalender. Darin sind Bildchen von viel schlimmeren Situationen als einer Coronaquarantäne: Stopflebergänsefarm, Moria im Schnee, Julian Assange. Dazu kleine QR-Codes für wohltuende Direktspenden.
Die Luxusversion zeichnet sich schliesslich durch einen garantierten Platz auf der Intensivstation (bei Bedarf) aus. Dazu gibts ein grob geschnitztes Nussholzbrettchen aus lokaler Bioproduktion zum Dreimal-Klopfen.
Neben dem Kalender für Erkrankte und Infizierte gibt es auch einen für die Haushaltsmitglieder, die die isolierte Person versorgen und dabei versuchen, sich nicht anzustecken. Hinter diesen Türchen befinden sich vornehmlich Desinfektionsmittel, Handcreme und Baldrianschnaps. Beim Upgrade zur First-Class-Variante sind noch ein paar Selbsttests dabei, die Business Class besticht mit einem zeitnahen Booster-Termin.
Der Haushaltsmitglied-Kalender kommt übrigens im Doppelpack mit einem Isolationskalender – im Fall einer Ansteckung können Sie gleich beide benutzen. Doppelte Freude! Falls Sie negativ bleiben, bewahren Sie den zweiten einfach für die nächste Welle auf.
In diesem Sinn: Frohe Quarantänen!
Michelle Steinbeck ist Autorin. Bei Erscheinen dieser Ausgabe wird ihr Haushaltsmitglied-Kalender leer sein.