Erwachet!: Sick!

Nr. 4 –

Michelle Steinbeck trifft aufs britische Gesundheitssystem

In meinen ersten Tagen in der englischen Hauptstadt habe ich irgendwo gelesen: «In London leben ist toll. Ausser du bist krank, arm oder auf Wohnungssuche.» Und krank sind derzeit alle. Laut «Guardian» ist dieser Winter besonders sick: Die verschiedenen Virenarten, die früher nacheinander Hochsaison hatten, tummeln sich heuer gleichzeitig im Pub, zusammen mit Streptokokken, Bazillen und Friends.

In der Apotheke äussert sich das so: Die Person hinterm Tresen erzählt von Sonnenauf- bis -untergang dasselbe Märchen: «Es gab einmal ein Grippemittel …» Wer Rückfragen stellt, wird mit einer lapidaren Geste Richtung leere Regale zum Schweigen gebracht.

Auch von ärztlicher Behandlung können die meisten nur noch träumen in einem Land, das einst für seine kostenlose Gesundheitsversorgung bekannt war. Termine in einer Praxis des National Health Service (NHS) gibt es nur unter einer Bedingung: akute Lebensgefahr. Für die wenigen, die es sich in Krisenzeiten leisten können, bieten private Firmen Alternativen: Das Angebot besteht überwiegend aus medizinischer Beratung via Facetime, die Luxusvariante ist der Besuch bei einer privaten «Hausärztin». Dieser dauert in meinem Fall knapp fünf Minuten. Das Gespräch wiederholt wortwörtlich das Onlineformular, das ich bei der Buchung bereits ausfüllen musste, und endet mit «How would you like to pay? Credit card?»

Neunzig Pfund leichter irre ich durch das Bürogebäude, vorbei an Scharen starr tippender Artgenoss:innen in Grossraumoffices, die mich und meine offensichtliche Verlorenheit ignorieren. Ich rüttle an einer geschlossenen Feuertür, warte auf einen Lift ausser Betrieb. War das überhaupt eine echte Ärztin? Oder doch nur ein Chatbot, eine Simulation? Es ist der perfekte Fiebertraum, eine absurde Dystopie, hinter der Fensterfront fliegt Sam aus Terry Gilliams «Brazil» vorbei.

Immerhin habe ich nun ein Rezept für Antibiotika. Die erste Apotheke hat es leider nicht. Die zweite auch nicht, sorry. Kopfschütteln bei der dritten. Die Quartiere werden durchkämmt, jeder neue Tag steht im Zeichen grün leuchtender Kreuze.

Bei Apotheke Nummer zehn werde ich aufgeregt: Sie befindet sich in einer teuren Gegend und ist riesig. Auf zwei Etagen märchenhaft volle Regale: Grippemittel, Lutschtabletten, sogar A.-Vogel-Produkte! Die Kasse für rezeptpflichtige Medikamente ist unbedient. Ich warte. Gehe suchend durch die Gänge. Kein Mensch. Schliesslich scanne ich am Self-Check-out ein Echinaforce.

Nachts liege ich wach und google Apotheken. Ich tippe «antibiotics», der Algorithmus vollendet «… shortage UK». Ich lese über NHS-Personal, das sich zwischen Heizen oder Essen kaufen entscheiden muss. Ich google Komplikationen von unbehandelter Krankheit. Lese über Ambulanzen, die nicht ankommen, über Menschen, die in Warteräumen von Spitälern sterben. Ein Mail kommt herein. Betreff: «Michelle, hast du unser letztes Mail gesehen?»

Es ist die Privatklinik, sie schreiben mir jetzt täglich. Sie freuen sich, dass ich ihre Kundin bin. Sie bieten bequeme und leicht zugängliche Gesundheitsdienstleistungen, die zu meinem Lifestyle passen. Sie danken mir, dass ich mich für sie entschieden habe, damit meine Gesundheit an erster Stelle steht. Sie bieten mir zehn Pfund für den nächsten Videotermin, wenn ich ihre App herunterlade.

Michelle Steinbeck ist Autorin und bis im Frühling in London.