Im Affekt: Bloss keinen Ansatz im Ausschnitt!

Nr. 41 –

Der Onlinekommentarschreiber W. L. hat klare Vorstellungen, wie eine Frau sich präsentieren soll und wie nicht: «Völlig nackte Frauenarme sind okay, wenn diese von unten bis oben die gleiche Bräunung aufweisen. Ein No-Go ist es, wenn die Unterarme schön gebräunt sind, die Oberarme dagegen in Weiss daherkommen.» W. L. ist nicht der Einzige: Nichts ist so stark fremdbestimmt wie der weibliche Körper – und dies vorwiegend von Männern. Auch in der Schweiz.

Das Gemüt von W. L. erregt hat die Abschaffung einer Kleiderregel im Ständerat: Im Jahr 2020 dürfen Ständerätinnen nämlich schulterfreie Kleidung tragen. Was für ein Fortschritt. Doch Leserkommentator B. M. glaubt: «Zwar werden die Männer dadurch etwas abgelenkt von der harten, schlecht bezahlten Arbeit im Parlament. Aber vielleicht schlafen sie dann weniger schnell ein bei den Sitzungen.» Genau darum gehts bei allen Kleidervorschriften: um die Erzählung, dass der Körper der Frau eine Gefahr für den Mann ist. Dieser muss geschützt werden (also nicht der weibliche Körper, sondern der Mann).

Deshalb gibt es nun auch an Schweizer Schulen Kleidervorschriften. Die armen Jungs (und die Lehrer?) können sich nicht mehr konzentrieren, wenn sie einen weiblichen Bauchnabel, einen nackten Oberschenkel oder sogar einen Busenansatz präsentiert bekommen. An einer Genfer Schule müssen Mädchen, die in den Augen des Lehrpersonals zu viel Haut zeigen, schlabberige T-Shirts überziehen mit der Aufschrift «Ich trage korrekte Kleidung». Im Aargau sind Lehrpersonen als SittenwächterInnen tätig: Ob einE SchülerIn «für den Unterrichtsanlass passend gekleidet» erscheint, ist an einer Schule entscheidend für das Zwischenzeugnis, die Kleiderordnung einer anderen Schule hält fest: «Der Ausschnitt verbirgt den Ansatz und den BH» und «Falls Leggins: Nie ohne etwas drüber». Man stelle sich die Lehrperson vor, die jeden Morgen die Kleidung der Jugendlichen kontrolliert. Ob sie auch auf die korrekte Bräunung der Oberarme achtet?

Wie eine Genfer Schülerin auf ihrer Protesttafel schrieb, frei nach Bertolt Brecht: «Erst kommt das Tenue, dann die Erziehung.»