Unruhen in Kirgistan: Feindliche Übernahme einer Revolte

Nr. 42 –

Nach den Parlamentswahlen erlebt Kirgistan tagelanges Chaos. Von der Hoffnung auf Erneuerung ist nicht viel geblieben; profitieren könnten NationalistInnen, Kriminelle und die bisherigen Machthaber.

«Keine Gewalt und keine Macht der organisierten Kriminalität»: Demonstranten am 7. Oktober in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek. FOTO: GULIZA URUSTAMBEK KIZI, DDP IMAGES

Die Unruhen nach der Parlamentswahl am 4. Oktober kamen nicht völlig überraschend. Schon 2005 und 2010 waren im Anschluss an Wahlen Präsidenten gestürzt worden. Im vergangenen Jahr erschütterte überdies eine Reihe aufsehenerregender Enthüllungen das Land: Recherchen kirgisischer und internationaler Medien legten nahe, dass der Clan des ehemaligen Chefs der Zollbehörde, Raimbek Matraimow, Staat und Regierung unterwandert hatte; unter anderem seien durch Schmuggel erwirtschaftete Millionensummen ausser Landes gebracht worden. Obwohl Kirgistan schon lange an Korruption leidet, hat dieses Ausmass viele schockiert.

Bei der Wahl dann erreichten zwei dem Präsidenten Sooronbai Dscheenbekow sowie den Matraimows nahestehende Parteien jeweils knapp 25 Prozent der Stimmen. Rund ein Dutzend oppositioneller Parteien scheiterten hingegen an der Siebenprozenthürde.

Der Sieg des Regierungslagers wurde sofort durch Berichte von Stimmenkauf und administrativen Schummeleien überschattet. Am Tag nach der Wahl versammelten sich mehrere Tausend DemonstrantInnen zunächst friedlich im Zentrum der Hauptstadt Bischkek. Noch in der Nacht kam es aber zu Strassenschlachten mit der Polizei, die sich jedoch bald zurückzog. DemonstrantInnen stürmten das «Weisse Haus», in dem das Parlament und der Amtssitz des Präsidenten untergebracht sind.

Überrumpelte Opposition

Politologin Bermet Borubajewa hatte mit GefährtInnen ihres marxistischen Kreises KirgSoz Flugblätter mit verschiedenen sozialen Forderungen unter den DemonstrantInnen verteilt. «Dass der Präsident zusammen mit den Matraimows die Wahl fälschte, ist offensichtlich. Ein Bekannter von mir etwa stellte im Wahllokal fest, dass er angeblich schon gewählt hatte», sagt sie. Während die erste Demo noch ein spontaner Protest gewesen sei, hätten schon bald Anhänger von Altpolitikern und Oligarchen die Initiative übernommen. «Ich wurde von ein paar sportlichen Typen gepackt und von der Demo abgedrängt», erzählt Borubajewa.

Die folgenden Tage waren chaotisch: Mehrere inhaftierte Politiker wurden durch Anhänger befreit, die Wahlergebnisse annulliert. Präsident Dscheenbekow tauchte ab. Führungsfiguren verschiedener Kräfte beanspruchten wichtige Posten, während zwei Koordinationsräte und Teile des alten Parlaments um Legitimität rangen. Kriminelle Banden übernahmen gewaltsam zahlreiche Firmen und auf dem Land gelegene Goldminen.

Laut dem linken Intellektuellen Georgi Mamedow ist dies symptomatisch. «Die Machthaber haben im Sommer, als die Coronapandemie wütete und sich der Staat als völlig handlungsunfähig erwies, das letzte Vertrauen verspielt», sagt der Dozent an der Amerikanischen Universität Zentralasiens in Bischkek. Gleichzeitig sei auch die Opposition von der Revolte überrumpelt worden und habe planlos reagiert.

Während sich verfeindete Altpolitiker, jüngere Reformfürsprecherinnen und von Korruption entnervte Bürger tagelang zu einigen versuchten, trat eine zwielichtige Figur immer mehr in den Vordergrund: der für eine Geiselnahme verurteilte und während der Unruhen aus dem Gefängnis befreite nationalistische Exabgeordnete Sadyr Dschaparow. Am Wochenende gelang es ihm auf fragwürdige Weise, sich vom scheidenden Parlament zum neuen Premier ernennen zu lassen. Zum ersten Mal in dreissig Jahren fuhr das Militär Panzer in der Hauptstadt auf, anscheinend zur Unterstützung Dschaparows.

Ernste Führungskrise

«Das ist eine Konterrevolution extremer Nationalisten und organisierter Krimineller», sagt Dozent Mamedow. Was als Absetzung der Machthaber begann, sieht nun eher wie eine Umverteilung von Führungsrollen innerhalb der Elite aus. Welche Kräfte gesiegt haben, sei noch unklar.

Einige BeobachterInnen sehen Dschaparow als Alliierten des Matraimow-Clans. Ob der als eher schwach geltende Dscheenbekow sich mit Dschaparow geeinigt hat und vorerst im Amt bleibt, ist ebenfalls unklar. Sollte Dscheenbekow abgehen, dürfte Dschaparow dessen Amt beanspruchen, denn einen Parlamentssprecher, der sonst den Präsidenten ersetzen würde, gibt es zurzeit nicht.

Laut Mamedow zeugen die jüngsten Ereignisse von einer ernsten Führungskrise. «Die Zivilgesellschaft könnte sich als eigenes Subjekt formieren. Für drei grundlegende Forderungen gäbe es in der Bevölkerung einen fast totalen Konsens: keine Gewalt, keine Macht der organisierten Kriminalität sowie die Aufrechterhaltung elementarer staatlicher Institutionen, allen voran des Gesundheitssystems.»

Ein Aufflammen weiterer Gewalt ist bislang nicht auszuschliessen. Nachdem 2010 der damalige Präsident Kurmanbek Bakijew gewaltsam abgesetzt worden war, floh er in seine Heimat im Süden des Landes. In der dort gelegenen zweitgrössten Stadt des Landes, Osch, kam es darauf zu ethnischen Unruhen, bei denen Hunderte Menschen, vor allem aus der usbekischen Minderheit, ums Leben kamen.

Der neue starke Mann Dschaparow war mit dem inzwischen landesflüchtigen Expräsidenten verbündet. Dass der damalige Bürgermeister von Osch, der als Mitorganisator der Pogrome gilt, im Zuge der jetzigen Unruhen aus seinem türkischen Exil zurückgekehrt ist, ist kein gutes Omen.