Ein Traum der Welt: Stabil in Babylon
Annette Hug folgt antiken Figuren durch Tropenstürme
Zwei Militärjets rasen so niedrig über die Dächer von Zürich, dass auf dem Pult die Briefklammern klappern. Aber eigentlich folge ich dem Künstler Norberto Roldan durch eine Ausstellung. Er geht in Manila durch die Galerie Silverlens und spricht live. Wir sehen dunkle Schränke und Kommoden, die Roldan zu Stufenpyramiden aufgetürmt hat. Gedanken an zitterndes Vitrinenglas kommen nicht auf. Die Installationen strahlen tiefe Ruhe aus und werden ihrem Namen gerecht: «Ziggurat». Himmelshügel des alten Babylon. Solche Tempeltürme haben 6000 Jahre überdauert. Norberto Roldan weist auf Überreste einer bildungs- und zukunftsfrohen Zeit, die er aus Secondhandläden geholt und in die Regale der Schränke gestellt hat: einen Globus, eine alte Uhr, winkende goldene Katzen. Dann wendet er sich von der Kamera ab und spricht vom Brand seines Ateliers im Juni, im dritten Monat der Quarantäne. Bis heute ist SeniorInnen in Metro Manila das Verlassen ihrer Häuser untersagt. Roldan murmelt in seinen langen grauen Bart, dass er eine ungeheure Aggression entwickelt habe. Es sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als pausenlos zu arbeiten. Aus beschädigten Werken schuf er neue.
Eigentlich hätte er uns schon am Vortag durch die Ausstellung führen sollen, aber in ganz Metro Manila war der Strom ausgefallen. Der Tropensturm Ulysses traf die Hauptstadt mit unerwarteter Wucht. Nun wirkt der Künstler in der fensterlosen, kunstvoll ausgeleuchteten Galerie tatsächlich wie ein Priester in einem Tempelverlies. Es wird überdauern.
Als eine Woche zuvor der Taifun Rolly die Provinzen der Region Bicol zwang, fast 300 000 Leute zu evakuieren, schienen die Vorsorgemassnahmen noch einigermassen zu wirken. Menschen konnten sich in Sicherheit bringen. Bilder vollständig zerstörter Fischerdörfer triggerten die üblichen Hinweise auf den Klimawandel. Früher waren die Stürme weniger heftig, weniger häufig. Niemand schien darauf vorbereitet, dass schon eine Woche darauf der zweite Jahrhundertsturm niedergehen würde.
Die Rettungsmassnahmen nach «Ulysses» kommen durch Schwarmintelligenz in Gang. Gemeinden helfen anderen Gemeinden, Fernsehstationen mobilisieren, auch Kirchen und Unternehmen. Über soziale Medien werden Hilferufe von Leuten kanalisiert, die auf Dächern festsitzen. Eine zentrale Koordination ist nicht sichtbar. Um den Schwarm bei der Prävention zu unterstützen, hat die University of the Philippines eine interaktive, digitale Karte lanciert, die zum Beispiel die Gefährdung durch Überschwemmungen für jeden Quadratkilometer des Landes sichtbar macht. Präsident Rodrigo Duterte hat diesem Projekt die Finanzierung entzogen. Auch die Mittel für Katastrophenvorsorge hat er um ein Drittel gekürzt.
Wieder zittern die Briefklammern auf dem Schreibtisch. Zwei weitere Militärflugzeuge sind über die Stadt Zürich gedonnert. Sie passen irgendwie in die Szenerie, die sich auf dem Bildschirm entfaltet. Erhöhte Alarmstimmung bei gleichzeitiger Erschöpfung. «Wir sind es müde, resilient zu sein», schreibt ein Karikaturist in Manila. Ein Menschlein sitzt allein auf seinem Hausdach in einem trüben Meer. Ach ja, die Website mit den Daten, die es erleichtern sollte, Sturmschäden zu vermeiden, heisst «Noah».
Annette Hug ist digital in einem Überschwemmungsgebiet, sonst aber Autorin in Zürich. Einen Einblick in die aktuelle Ausstellung von Norberto Roldan bietet die Seite www.silverlensgalleries.com.