Ein Traum der Welt: Vor dem Sturm

Nr. 44 –

Annette Hug sieht den Marktplatz als Brennglas

Wenn der Auftritt eines Gastlands an der Frankfurter Buchmesse etwas über den Zustand der Welt aussagt, dann war der italienische Pavillon ein Tiefschlag: Da stand ein römisches Forum mit kitschigen Säulen und Resten der Stadt Pompeji. Als wollten die regierenden Rechtsextremen zeigen, dass es sie einen Dreck interessiert, was Autor:innen heute diskutieren.

Nächstes Jahr werden die Philippinen Gastland in Frankfurt sein. Den Pavillon wird Patrick Flores verantworten. Er ist eine feste Grösse in der südostasiatischen Gegenwartskunst. Ich tippe darauf, dass seine Ausstellung von globalisierter Gegenwart erzählen wird, von Megastädten und tropischen Berggebieten.

Der Druck auf alle Beteiligten ist riesig. Wird das der lang ersehnte Abschied vom kolonialen Abstellgleis? Die Ankunft im internationalen Zirkus? Oder geht doch noch alles schief? Diesen Druck in einem alten Tram abzutanzen, war eine schöne Idee. Das Generalkonsulat lud die philippinische Delegation zum fahrenden Umtrunk. Ein Entertainer gab US-amerikanische Evergreens zum Besten, schritt im glimmernden Jackett die Sitzreihen ab. Den Tanzenden im «Ebbelwei-Express» wurde von draussen zugewunken. Als der Sänger zu «Sex Bomb» auch noch eine Sixpackattrappe enthüllte, gabs kein Halten mehr. «Dampf ablassen» schien die Devise. Wobei der Song «September» der afroamerikanischen Band Earth, Wind and Fire fragende Blicke auslöste. War das ein Statement? Oder nur ungeschickt?

Als der Song 1978 erschienen war, hatten ihn Anhänger:innen des damaligen Diktators Ferdinand Marcos zu ihrer Hymne erkoren. Marcos hatte im September 1972 das Kriegsrecht ausgerufen und fortan die linke und liberale Opposition unterdrückt. Die Aufforderung im Song, sich an den September zu erinnern – «Remember!» – hat in philippinischen Kreisen einen politischen Subtext.

Einiges könnte noch schiefgehen. Seit Juli 2022 ist Ferdinand Marcos junior gewählter Präsident und betreibt eine Umschreibung der Geschichte zugunsten seines Vaters. Wird er nächstes Jahr in Frankfurt auftreten? Zensur ist in der bisherigen Vorbereitung nicht auszumachen. Die kritische Aufarbeitung der Diktatur ist Thema mehrerer Romane, die dieses und nächstes Jahr herauskommen. Auch die grossartige Patricia Evangelista war in Frankfurt. Sie hat als Reporterin Nacht für Nacht die Morde in Präsident Rodrigo Dutertes sogenanntem «Krieg gegen Drogen» dokumentiert und ihre Erfahrung dargestellt.

Dass man beim Tanzen in einem ruckelnden Tram den Knöchel verstauchen könnte, war bald nicht mehr die grösste Gefahr. Während ein Teil der Delegation zu Veranstaltungen in Heidelberg weiterzog, näherte sich der Tropensturm Kristine (internationaler Name: Trami) der philippinischen Insel Luzon. In verheerenden Überschwemmungen sind seither mehr als achtzig Menschen gestorben. In der Stadt Naga ging der Buchladen Savage Minds unter. Einer der Betreiber:innen, der Autor Kristian Sendon Cordero, war in Heidelberg und leitete die Nachricht seiner Kolleg:innen weiter: Es ist schon die zweite Überschwemmung dieses Jahr. Sie können nicht mehr. Alle Bücher sind zerstört.

Naturkatastrophen, die immer häufiger und heftiger werden, sind ebenfalls Thema von Romanen, die nächstes Jahr auf Deutsch präsentiert werden.

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin. Sie sammelt Begründungen für die Flutkatastrophe in der Provinz Bikol: heftigere Stürme, von Vulkanschlamm verstopfte Flussdeltas, Abholzung, Flussbegradigungen und Bewässerungsprojekte, unterschlagene Gelder für Hochwasserschutz.