Kuba: Ein poetischer Akt gegen die Erstarrung

Nr. 1 –

Junge Kulturschaffende demonstrierten kürzlich in Havanna für die Meinungsfreiheit. Der kubanische Filmregisseur Fernando Pérez berichtet über einen unverhofften Protest in Kuba.

Am Abend des 27. November spürte ich, dass ich in die Zukunft reiste. Auf dieser Reise, auf der ich die jungen KünstlerInnen bei ihrem Protest vor dem Kulturministerium begleitete, teilte ich mit ihnen einen Raum, der offen, inklusiv, divers und pluralistisch war. Diese Jungen nahmen so ein Kuba vorweg, von dem viele KubanerInnen (aller Generationen) geträumt haben und immer noch träumen. Es war eine politische Manifestation, aber sie manifestierte sich als poetischer Akt, gewaltlos, mit Liedern und Gedichten, sensibel und reflektierend. Und sie äusserte sich in einer neuen Sprache, die schon seit geraumer Zeit nicht zu überhören ist.

Die zentrale Forderung der Protestierenden war jene nach freier Meinungsäusserung in unabhängigen Räumen. Bestes Beispiel für diese Freiheit bot die Zusammensetzung der Manifestation selbst, denn sie war sehr heterogen. Nicht alle TeilnehmerInnen dachten gleich, nicht alle teilten dieselben Ausdrucksformen, aber alle anerkannten das Recht aller, ihre Ideen und Überzeugungen frei ausdrücken zu dürfen.

Filmstill ohne Stimme

Am folgenden Tag erwachte ich – aus einem Traum? – und landete unsanft in der Gegenwart. Das Fernsehen sendete einen Bericht über die Geschehnisse. Es war der gleiche Diskurs wie immer, die gleiche informative Sprache, die nur einen Teil zeigte und einen anderen ausschloss. Die Jugendlichen des 27. November existierten darin nur als erstarrtes Filmbild ohne Stimme.

Aber ich mache mir keine Illusionen: Die Mentalitäten ändern sich nicht von einem Tag auf den andern. Einmal mehr wurde mir bewusst, dass der Weg lang sein wird. Unverständnis, fehlende Kommunikation, Ausschlüsse und Intoleranz haben Mauern errichtet, die sich nicht von heute auf morgen überwinden lassen. Zu lange hat man es aufgeschoben, weisse Blätter mit lebendiger Sprache zu füllen. Gelingen kann das nur mit dem Willen all derer, die etwas dazu beitragen wollen. Es wird nicht einfach sein, aber irgendwo muss man anfangen. Die Konflikte und Differenzen werden fortbestehen, aber der einzige Weg, sie zu lösen, ist der Dialog.

Unzufrieden und kreativ

Kuba durchlebt gegenwärtig in ökonomischer, sozialer, aber auch politischer Hinsicht äusserst schwierige Momente. Verschlimmert wird diese Entwicklung durch die Auswirkungen der Pandemie und die Verschärfung des Embargos seitens der Trump-Regierung – die wir glücklicherweise bald loshaben werden. Innerhalb dieses Szenarios müsste das Augenmerk besonders auf den Partizipationsmöglichkeiten der Jungen liegen, denn diese werden sonst weiterhin massenhaft das Land verlassen. Ich bin überzeugt, dass die jungen KünstlerInnen – und die Jungen ganz allgemein – mit ihrer Unzufriedenheit und ihrer Kreativität, mit ihren Irrtümern und ihren Entdeckungen, mit ihren Widersprüchlichkeiten und Überzeugungen ihren Beitrag zu Diversität und zu notwendigen Veränderungen leisten. Denn wie ein Weiser sagte: «Nichts ist ewig ausser der Veränderung.» Und diese Veränderung ist im Netz bereits präsent.

Ich selber bin weder auf Facebook noch auf Twitter oder Instagram, denn ich war nie ein Medienmensch, und ich habe meine Vorbehalte gegen diese medialen Räume: wegen ihrer Banalität, ihres Sensationalismus und ihrer Fake News und – am schlimmsten – weil sie ohne Weiteres auch in intimste und privateste Räume eindringen. Aber gleichzeitig beginne ich zu verstehen, dass das Netz auch eine Möglichkeit sein kann, der geballten Informationsmacht der international agierenden Medienkonzerne einen unkontrollierbaren alternativen Raum entgegenzusetzen.

Im Fall von Kuba haben die Jungen mit dem Internet ein Mittel gefunden, um sich frei auszudrücken – und gegenüber dieser fliessenden, lebendigen, vom Wind begünstigten Dynamik sind die offiziellen Medien des kubanischen Staates in ihrer Erstarrtheit, höflich ausgedrückt, hoffnungslos im Nachteil.

Aufgezeichnet von Geri Krebs.

Proteste dauern online an

Der 76-jährige Fernando Pérez («La vida es silbar») ist seit über zwanzig Jahren Kubas international renommiertester Regisseur.

Am 27. November schloss er sich den Protesten von 300 vorwiegend jungen Kulturschaffenden an. Sie hatten sich in einem für die jüngere kubanische Geschichte beispiellosen Akt zivilen Ungehorsams vor dem Kulturministerium in Havanna versammelt, um gegen die Verhaftung eines Künstlerkollektivs zu protestieren, und forderten eine Aussprache mit VertreterInnen des Kulturministeriums. Diese wurde einer Delegation der Protestierenden zwar gewährt, doch danach entfachten die kubanischen Behörden ein bis heute andauerndes mediales Trommelfeuer gegen die DemonstrantInnen.

Ihr Protest wurde zum Umsturzversuch aufgeblasen, der von «Verrätern», «Söldnern», «Annexionisten» und «gekauften Agenten der Trump-Regierung» angeführt worden sei. Im Netz dauern die Proteste trotzdem unvermindert an.