Kubanisches Kino: Guantanamera – oder wenn eine Epoche zu Ende geht

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Mit dem Tod der Regisseure Juan Carlos Tabío («Fresa y chocolate») und Enrique Pineda Barnet verliert das kubanische Kino zwei seiner historischen Gründerfiguren.

Das Bild ging damals um die Welt: Ein alter und ein junger Mann auf einer Bühne halten gemeinsam triumphierend eine Figur in die Höhe, so hoch es geht. Die Figur war der Silberne Bär, der alte Mann hiess Tomás Gutiérrez Alea, der junge war sein Koregisseur Juan Carlos Tabío.

Das war 1994 an der Berlinale, wo «Fresa y chocolate» mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde – als erste kubanische Produktion, die an einem der wichtigsten Filmfestivals einen Hauptpreis erhielt. Davor hatte der Film schon in Havanna für Begeisterungsstürme gesorgt, wo er am lateinamerikanischen Filmfestival unter anderem den Publikumspreis und den Jurypreis holte.

«Fresa y chocolate» war nicht nur der erste kubanische Film, der Homosexualität thematisierte, er ist bis heute auch der einzige Beitrag aus Kuba, der jemals für einen Oscar nominiert wurde. Dabei war die ans Herz gehende Geschichte über die Freundschaft zwischen einem kunstsinnigen Homosexuellen und einem linientreuen Jungkommunisten eher atypisch für das Schaffen des 1943 in Havanna geborenen Juan Carlos Tabío. Seine grosse Liebe galt der Komödie. 1993 war er gerade mitten im Schnitt von «El elefante y la bicicleta», einem vom magischen Realismus beeinflussten Schelmenstück zur Hundertjahrfeier des Kinos, als er eine Anfrage von Tomás Gutiérrez Alea erhielt. Zehn Jahre zuvor hatte er schon einmal mit Alea gearbeitet, beim Drehbuch zu dessen Tragikomödie um Machismo, «Hasta cierto punto». Als ihn der an Lungenkrebs erkrankte Alea nun um Unterstützung bei «Fresa y chocolate» bat, sagte Tabío sofort zu. «Das war ein selbstverständlicher Freundschaftsdienst», erklärte Tabío später in einem Interview.

Zigaretten und Frechheiten

Bald nach «Fresa y chocolate» drehten die beiden dann noch «Guantanamera» (1995) zusammen. Die Zeit drängte, denn Aleas Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Die schwarzhumorige Komödie um das Chaos, das eine Leiche auf einem Transport quer durch Kuba anrichtet, war ganz nach dem Geschmack beider Regisseure. Doch Alea war schon so krank, dass er nur noch vereinzelt auf dem Set präsent sein konnte. Er starb im April 1996, wenige Monate nach der Premiere von «Guantanamera».

Diesem komödiantischen Roadmovie liess Tabío dann gewissermassen ein Roadmovie im Stillstand folgen: «Lista de espera» (2000), gewidmet seinem verstorbenen Freund und Kollegen, war eine Komödie um ein paar Reisende im Wartesaal eines Busterminals irgendwo in der kubanischen Provinz. Wie «Fresa y chocolate» und «Guantanamera» war auch «Lista de espera» ein internationaler Grosserfolg. Zudem verkörpert der Film exemplarisch das, was Kubas vielleicht scharfsinnigster Filmtheoretiker, der im Herbst 2020 verstorbene Regisseur und Kritiker Enrique Colina, einst so formulierte: «Realität manifestiert sich in Kuba stets als konkrete Fantasie zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen möglichen Unmöglichkeiten. Sie machen unser Leben zu einem Hirngespinst zwischen Rationalem und Absurdem.»

Bereits mit seinem ersten Spielfilm, «Se permuta» («Wohnung zu tauschen») von 1983, hatte Tabío in Kuba einen Grosserfolg gelandet. Darin ging es um die amourösen Verstrickungen einer alleinerziehenden Mutter und ihrer erwachsenen Tochter beim Umzug von einem ärmlichen in ein besseres Quartier Havannas. In den zwanzig Jahren davor hatte Tabío für das Filminstitut ICAIC zahlreiche Dokumentarfilme realisiert – viele davon zu Alltagsthemen, aber auch Musikerporträts und immer wieder Propagandafilme mit Titeln wie «Die erste Schule des Proletariats: Über die Aufgaben der Gewerkschaften in der revolutionären Etappe».

Juan Carlos Tabío holte sich hier wohl das dokumentarische Rüstzeug, dank dem er später in seinen Spielfilmen die kubanische Realität in einer Weise festhalten konnte, die sein Freund und Weggefährte Fernando Pérez so charakterisierte: «Mit seinem kreolischen Humor zeigte er das wohl authentischste Gesicht von Kuba und von uns Kubanern und Kubanerinnen – und damit bedeutet er für Kuba das, was Woody Allen für New York verkörpert.» Welche Wertschätzung Tabío aber auch bei der jüngeren Generation des kubanischen Kinos genoss, zeigt Carlos Lechuga, der 1983 geborene Regisseur von Filmen wie «Melaza» und «Santa y Andrés». Auf Facebook schrieb er über Tabío: «Juan Carlos, du warst ein Vater, du hinterlässt eine unbeschreibliche Leere, hast die Tür hinter dir verschlossen, die Schlüssel in deine Jackentasche gesteckt samt Zigaretten und deinen ganzen Frechheiten.»

Das «sibirische Mammut»

Sechs Tage vor Tabíos Tod am 18. Januar war Kubas Filmwelt bereits mit dem Tod einer anderen grossen Figur des nationalen Kinos konfrontiert: Enrique Pineda Barnet. Der 1933 in Havanna geborene Barnet war bereits ein bekannter Schriftsteller, als er 1963 ins Filminstitut ICAIC eintrat. In dieser Eigenschaft wurde er beauftragt, gemeinsam mit dem russischen Poeten Jewgeni Jewtuschenko ein Drehbuch für das Revolutionsepos «Soy Cuba» zu schreiben – respektive der sowjetischen Delegation unter der Leitung von Starregisseur Michail Kalatosow als Fremdenführer zu dienen. Der Mix aus slawischem Pathos und karibischem Temperament fiel bei der Premiere völlig durch – erst 1992 wurde der Film von Martin Scorsese wieder entdeckt.

In Kuba ist dieses «Sibirische Mammut», wie «Soy Cuba» 2004 in einem Dokumentarfilm über seine Entstehung charakterisiert wurde, bis heute praktisch nur in cinephilen Kreisen bekannt. Pineda Barnet kennt man dort für einen gänzlich anders gelagerten Film, als Autor und Regisseur von «La bella del Alhambra» (1989). Die Musicalkomödie um eine Variétésängerin im Havanna der wilden zwanziger Jahre, eine Hommage ans Volkstheater jener Epoche, war seinerzeit in Kuba einer der erfolgreichsten Filme überhaupt und gewann dann als erste kubanische Produktion einen Goya bei den spanischen Filmpreisen.

Enrique Pineda Barnet wie auch Juan Carlos Tabío stehen für eine ganze Epoche des kubanischen Kinos. Hier soll noch einmal Fernando Pérez, der bekannteste – und jetzt bald der letzte noch lebende – Vertreter aus der Generation des kubanischen Revolutionskinos, über die Verstorbenen zu Wort kommen: Tabío und Pineda Barnet seien Gründerfiguren gewesen, würdigte er die beiden, sie hätten dem ICAIC ein Gesicht gegeben, «das gleichermassen der Revolution verpflichtet, aber auch kritisch, partizipativ und unbequem war». Und sie erfuhren mit ihren Filmen eine internationale Beachtung, von der das heutige kubanische Kino nur träumen kann.