Erwachet!: Angst vor Anna K.?

Nr. 6 –

Michelle Steinbeck liest ein revolutionäres Flugblatt

«Am Herd hatten schon immer Frauen das Sagen»: So leitet der «Tagi» am 7. Februar, als sich die Einführung des Schweizer Frauenstimmrechts zum 50. Mal jährt, einen Artikel ein. Schenkelklopfer zur Feier des Tages? Oder doch eher too soon?

Die Berichte über das historische Unrecht rufen zuerst einmal Unglauben, Wut und Trauer hervor. Schliesslich münden sie in Dankbarkeit und Ehrfurcht gegenüber jenen, die schon so lange für eine gerechtere Gesellschaft kämpfen und gekämpft haben. Es scheint aus heutiger Sicht unfassbar, wie es diesen Vorreiterinnen gelang, sich der Lähmung durch jede noch so dumm zur Schau gestellte Frauenfeindlichkeit zu entziehen.

Eine von ihnen ist die jüdisch-russische Revolutionärin Anna Kuliscioff. Sie war die zweite Frau, die je an der ETH Zürich studierte. Nach ihrem darauffolgenden Medizinstudium in Bern wird die «köstliche Blonde, die redet wie ein Mann» zur «Ärztin der Armen» in Italien. Sie ist eine der einflussreichsten Sozialistinnen ihrer Zeit, Journalistin und militante Aktivistin der Frauenbewegung. Im März 1897 (!) schreibt die «Eisenfaust im Samthandschuh» einen offenen Brief an die italienischen Frauen. Für diese Worte wird sie – einmal mehr – verurteilt und inhaftiert. Sie sind noch heute verstörend aktuell.

Kuliscioff wendet sich an jene Frauen, die «ihr Reich» nicht mehr auf Haus und erwähnten Herd beschränken lassen wollen – besonders weil viele so etwas gar nicht (mehr) haben. Die Industrialisierung hat die Frauen aus ihren Häusern «herausgerissen» und «in den Strudel der kapitalistischen Produktion geworfen». Die Hausfrau, die ihrem Alleinernährer-Mann von zu Hause aus «den Rücken stärkt» und dafür am Herd das Sagen hat, ist eine konstruierte Idealvorstellung des 19. Jahrhunderts und damals wie heute nur wenig gelebte Realität. Die meisten Frauen verrichten wie selbstverständlich unbezahlte Haus- und Pflegearbeit, zusätzlich zur vergleichsweise schlechter bezahlten Lohnarbeit.

«Wir sind fügsamer», meint Kuliscioff zur Ausbeutung der Frauen, «und es scheint unser Schicksal, dass wir alles aushalten müssen.» Während sich Männer eher zusammenschliessen würden, um gemeinsam für eine Verbesserung ihrer Bedingungen zu kämpfen, gelinge das Frauen weniger. Sie schreibt aber auch, dass «unsere Passivität und Apathie», die «Lethargie und Trübsal» nicht natürlichen Ursprungs seien, sondern bedingt durch fehlende Privilegien. Das Flugblatt von 1897 schliesst mit vier Forderungen: Beschränkung des Arbeitstages auf acht Stunden; gleicher Lohn für gleiche Arbeit; Freiheit für die Frau, über ihren eigenen Lohn zu verfügen; einen viermonatigen Schwanger- und Mutterschaftsurlaub.

Liegt es an der berüchtigten Schweizer Gemächlichkeit, dass wir heute, weit über hundert Jahre später, den Grossteil dieser Forderungen faktisch noch nicht als erfüllt ansehen können? Sind fünfzig Jahre Frauenstimmrecht vielleicht einfach zu wenig, brauchen solche Veränderungen bloss ein bisschen mehr Zeit?

Die feministische Ökonomin Mascha Madörin erklärte kürzlich in einem Vortrag, dass Deutschland, dessen Frauenstimmrecht mehr als doppelt so alt ist wie jenes der Schweiz, punkto Gleichstellung schlechter dastehe: Die Lohn- und Einkommenslücke sei dort noch grösser. Wir können uns also nicht zurücklehnen und darauf warten, dass die Zeit es schon richten wird.

Michelle Steinbeck ist Autorin. Gerade übersetzt sie Briefe und Texte von Anna Kuliscioff.