Erwachet!: Kater statt Kader

Nr. 25 –

Michelle Steinbeck unterbricht ihren Apéro

Dieses Jahr war ich am feministischen Streiktag in Zürich. Meine teure Heimatstadt, wo der Zwingli-Vibe bis in die hintersten Ecken der letzten besetzten Häuser weht; wo Kleinkinder auf dem Kanzleispielplatz Ferrari, BMW, Porsche und Tesla am Klang erkennen; wo Wohnungsbesichtigungen, gemessen an ihrer Besucher:innenanzahl, mittelgrosse Festivals sind; wo zu allem Überfluss die Schneeberge hinter dem See aufprotzen, deren strahlend Weiss als Richtlinie für die Turnschuhe aller, die hier etwas auf sich halten, gilt – in dieser Stadt ist es schon eine seltene Wohltat, wenn ein Gespräch so klingt: «Häsch du hüt gschaffet?» – «Nu bizli.»

Bei der Besammlung am Bürkliplatz überschneiden sich die Erzählungen. Väter rufen an und sagen: «Was habt ihr denn schon wieder zu demonstrieren.» Mütter schreiben, dass sie gerne kommen würden, aber zu müde seien nach einem weiteren elfstündigen Arbeitstag. «Dini Mueter isch hässig» steht auf den Shirts der Eidgenössischen Kommission dini Mueter (EKdM). Sie fordert etwa mehr Lohn und Zeit für gute Kinderbetreuung. Die verbreitetsten Anliegen betreffen in diesem Jahr unbezahlte und schlecht bezahlte Care-Arbeit, die AHV-Reform, die Sexualstrafrechtsreform («Nei isch denk eh Nei» – «Das hat nicht funktioniert – we know!») und intersektionale Solidarität.

Die meisten Forderungen, die an diesem Tag im Juni auf die Strasse getragen (und zur Empörung freisinniger Hysteriker auf zufällig herumstehende Ferraris, BMWs, Porsches und Teslas gestickert) wurden, gibt es schon so lange, wie die zugrunde liegenden Missstände als natürliche Ordnung betrachtet werden.

Die in Zürich tätige Revolutionärin und Frauenrechtlerin Anna Kuliscioff, von der hier bereits einmal die Rede war, stellte in ihrem Flugblatt von 1897 vier Forderungen – von denen heute drei noch immer nicht erfüllt sind: die Beschränkung des Arbeitstags auf acht Stunden; gleicher Lohn für gleiche Arbeit; Freiheit für die Frau, über ihren eigenen Lohn zu verfügen; einen viermonatigen Schwanger- und Mutterschaftsurlaub.

Und die Prognosen sind nicht gerade vielversprechend: Im Bericht «Schweiz 2035», in dem Thinktanks Fragen zur Zukunft beantworten, wird etwa nicht davon ausgegangen, dass 2035 mehr Frauen in Führungspositionen sein werden. Weiblich gelesene Personen fielen auf dem Weg nach oben einer mysteriösen «Leaky Pipeline» zum Opfer. Für die Reparatur dieses Lecks «bedürfte es grundlegender Veränderungen in den Unternehmen, in der Gesellschaft und in der Schweizer Politik» – für die es jedoch wenig Anzeichen gebe. Anders ausgedrückt: Das erwartete Ergebnis des feministischen Streiks sei mehr Kater als Kader.

Von Karrierefeminismus war bei der Demo sowieso nicht viel zu spüren, wie bürgerliche Medien bemängelten. Im Gegenteil: Eine Primarschülerin forderte auf einem Plakat: «Weniger Geld! Weniger Arbeit!» Die ungewohnte Kombination (traditionellerweise wird doch eher mehr Geld für weniger Arbeit gefordert) passte zum Anlass, den ich gerade für den Streik unterbrochen hatte: Am langjährigen Arbeitsort, wo ich kürzlich gekündigt hatte, fand zeitgleich mein Abschiedsapéro statt. Die Aussage auf dem Plakat spiegelte in ihrer Ambiguität meinen Gemütszustand, der mich später zurück zum Abschiedsfest begleitete. Weniger Geld. Weniger Arbeit. Mehr Zeit.

Michelle Steinbeck ist unter anderem Autorin und Nochredaktorin der «Fabrikzeitung».