Von oben herab: Ende mit Schrecken
Stefan Gärtner über Magdalena Martullo-Blocher in der Diktatur
Und ich schreibe es noch hin, dass sich übers Wetter nicht kolumnieren lässt, z. B. über den Winter, der keiner mehr ist, und gleich fällt in Norddeutschland so viel Schnee wie seit Jahren nicht. Es fiel dann auch die Schule aus, zwei Tage lang, und ich träumte davon, kein linksextremer, sondern ein rechtsliberaler Kolumnist zu sein: «Liebe Safe-Space-Weicheier und Achtsamkeitsnudeln: Dreissig Zentimeter Neuschnee sind weder ‹Extremwetter› noch eine ‹Eiszeit›, auch wenn euch das die Nachrichten vorschwätzen, und dass deshalb zwei Tage lang keine Schule ist in Zeiten, wo eh kaum Schule ist, bringt mich aus der Fassung: Alle fahren sie Geländewagen, und so gut wie niemand ist im Alltag mehr ohne grobstolliges Wanderschuhwerk unterwegs; aber kaum dass es schneit, bricht die öffentliche Ordnung zusammen. Oder hat die Schule, ohnehin stets besorgt (und deshalb auch ‹nussfrei›, um allergische Schocks zu vermeiden), Kinder und Personal nicht den Gefahren eines durchschnittlichen Wintertags aussetzen wollen, der extrem allenfalls dadurch wurde, dass die kaputten öffentlichen Haushalte nicht mehr in der Lage sind, geräumte Strassen zu gewährleisten? Kann es sein, dass sich niemand mehr irgend konfrontieren lassen will, noch gar mit ‹Natur›, die, allem Gewäsch von ‹bio› und ‹nachhaltig› zum Trotz, mit einer verwechselt wird, die elf Monate im Jahr für Eiscafé-Wetter zu sorgen hat? Ist das die vielzitierte Entfremdung, dass 10 Grad unter null im Februar als Naturkatastrophe erscheinen und die 18 Grad plus zum Monatsbeschluss wie die Normalität? Statt wie der Anfang vom Ende der Welt, wie wir sie kennen? Oder wenigstens kannten?»
Ach, es wäre schön, vielleicht sogar lukrativ! Keine fruchtlosen Empörungen wider Lüge und Ausbeuterei mehr, sondern, etwa als NZZ-Kraft, gemütliche Wutinterviews mit Magdalena Martullo-Blocher über die «Diktatur» der Lockdownideologie: «Vor kurzem hiess es noch, Lockerungen seien möglich, wenn die Fallzahlen hinuntergehen, die Intensivstationen wieder Platz haben und der R-Wert unter 1 sinkt. Das ist alles erfüllt, aber der Bundesrat lockert nicht. Im Dezember sagte der Bundesrat, die Spitäler kämen ans Ende ihrer Kapazitäten. Das traf aber nirgends ein. Die prophezeite Ansteckungswelle über Weihnachten und Neujahr? Sie ist ausgeblieben. Jetzt, wo die Infektionszahlen noch immer tief sind, müssen die Mutationen als Begründung für die Weiterführung der Massnahmen herhalten. Der Bund regiert mit Schreckensszenarien, damit er die Macht behalten kann.»
Dabei will die Magda die schöne Macht doch selbst behalten! Und reagiert darum, als Chefin der Ems-Chemie, dann ihrerseits mit Schreckensszenarien und macht vom «Machtrausch des Bundesrats» Mitteilung, bloss weil der weiss, was ein Vorsorgeparadox ist: dass nämlich das nicht eintritt, vor dem man sich so akkurat geschützt hat, was die mit den gelockerten Schrauben dann für einen Grund halten, den Schutz als unnötig anzuschmieren (282 Kommentare: «… kann zu 100 Prozent zugestimmt werden» – «ENDLICH! Und jetzt lasst nochmal die Mediziner sprechen, die zu 70 Prozent die Massnahmen für gefährlicher halten als das Virus selbst»).
Währenddessen ist in China und bei den Ems-Chemiefirmen ebenda wieder «Alltag» (Martullo-Blocher) eingekehrt: «Das chinesische Bruttoinlandsprodukt ist 2020 sogar gestiegen. Die Schweiz ist eigentlich keine Diktatur, wir wollen auch keine. Trotzdem leben wir heute unter einem Regime des Bundesrats. In China ist die Wirtschaftsfreiheit derzeit viel grösser als hier.» Und also die Freiheit generell, denn Wirtschaftsfreiheit ist Freiheit schlechthin (Hans-Olaf Henkel, noch einmal), und der Laden läuft nur, wenn die Läden laufen, etwa jene für SUVs und Trekkingstiefel, die wir nicht einmal dann gebrauchen können, wenn wir sie ausnahmsweise mal gebrauchen könnten.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.