Eine fabelhafte Neujahrsgeschichte: Wie Dr. Frosch gerade noch einmal davonkam

Nr. 51 –


Unlustig wie selten sass Dr. Frosch an seinem kleinen Medizinalschreibtisch und dachte über die Welt nach, die, weil Winter war, weiss und friedlich seinen heimatlichen Tümpel umglitzerte.

Was sollte ihm das neue Jahr?, fragte sich Dr. Frosch, wischte zum wer weiss wievielten Male Schnee vom Tisch und liess einem unfroschigen Hang zur Melancholie die Zügel schiessen. Jeden Tag, dachte Dr. Frosch und suchte unwirsch irgendwas Hodensackartiges, um sich kratzend daran schadlos zu halten, kamen sie an und gaben vor, krank zu sein, und jeden Tag gab er beherzte Ratschläge, und immer waren sie in den Wind gesprochen, denn ein guter Arzt ist ganz sinnlos, wenn er keine adäquaten Patienten hat. «Füsse hochlegen und Wadenwickel»: die Forelle gestern hatte ihn angeglotzt, als hätte er ihr vorgeschlagen, sich in Butter zu wenden und mit Zitrone zu bespritzen! Und ihre widerwärtig schuppige Haut schien ihr sowieso egal zu sein, na, was verschlugs, er, Dr. Frosch, war, wenn überhaupt irgendwas, Wald- und Wiesenmediziner und kein Dermatologe.

Es war ganz still im Wald, die Sprechstunde hatte noch nicht begonnen, und mit wachsendem Grimm imaginierte sich der mit allen trüben Wassern gewaschene Diagnostiker seinen Arbeitstag zusammen: Erst kam irgendein Eichhorn und piepste was von «Alzheimer», nur weil es seine Eicheln nicht wiederfand, dann kam eine Wildsau und klagte, ihr Mann fühle sich neuerdings wie erschossen, und wenn es ganz dumm lief, erschien ein Hirsch und monierte einen schweren Kopf. Es war diese absolute Ahnungslosigkeit in veterinärmedizinischen Angelegenheiten, die Dr. Frosch so deprimierte, und mit einem bitteren Quaken quittierte er die Erinnerung an den Schwachkopf von vorgestern, der bei ihm vorstellig geworden war mit der Beschwerde, er fühle sich in letzter Zeit so müde und habe den ganzen Tag über ein geradezu unbezwingbares Bedürfnis nach Schlaf, ja, am liebsten würde er gar nicht mehr aufstehen «und bis zum Frühjahr durchschlafen». Dr. Frosch hatte diesen Blödmann von Bären mit einem Ausdruck äusserster Geringschätzung (soweit das Dr. Frosch bei seinen eingeschränkten mimischen Möglichkeiten möglich war) gemustert und ihn an einen Fachkollegen überwiesen, damit an derlei Beschränktheit und Hypochondrie wenigstens noch einer verdiente.

Und dafür hatte man nun also wochenlang in Quakenbrück studiert, hatte Berge von Laich seziert und im «Amplexus» die Backen aufgeblasen! Bloss um an einem Ort, wo sich Fuchs und Hase erst gestern wieder gute Nacht sagten – entgegen Dr. Froschs ausdrücklichem Verbot übrigens, aber Hasen liessen sich grundsätzlich nichts sagen, schon gar nicht von Ärzten, und so war denn genau das geschehen, was er, Dr. Frosch, prophezeit hatte, er musste auch seinen lindgrünen Anzug noch bügeln, morgen war Beerdigung, da musste er sich blicken lassen, obwohl er viel lieber abgetaucht wäre –, bloss um an einem gott- und geistverlassenen Ort wie diesem jedenfalls den Quaksalber zu geben, und nicht einmal reich wurde man dabei, diese Zeiten waren perdu, seine Wohnung war feucht und kalt, da hätte er auch gleich Sozialschmarotzer oder Froschschenkel werden können, da hätte er es wenigstens warm gehabt.

Aber wie kam einer gegen Eltern an! Gegen den Wunsch eines Vaters gar! Und Dr. Frosch sah den Vater vor sich, wie er von seinen, Dr. Froschs, vielen Geschwistern quakte, die von der Schulbank weg im ältesten Gewerbe der Welt gelandet waren, schnell und rücksichtslos verschlissenes Nahrungskettenmaterial, namenlos und längst vergessen.

Aber er, Dr. Frosch, hatte Gelbrandkäfer, Wasserskorpion und Ruderwanze überlebt, hatte sich wenn schon in keinem Haifisch-, so doch in einem Molchbecken behauptet, und also konnte es väterlicherseits nicht zugelassen werden, dass er seine Tage mit Fliegenfang, grünem Afghanen und «New Frogs on the Block» zum Graureiher jagte. Er lebte, das war ein Privileg; und von diesem Privileg, so hatte sein Vater bestimmt, hatte er, hatte Dr. Frosch abzugeben.

Drum sass er jetzt hier in der Grütze.

Über diesen trüben Gedanken hatte, von Dr. Frosch gar nicht recht bemerkt, die Praxiszeit begonnen, und gerade malte er sich in den grünsten Farben die Freuden eines arbeitsfreien Vormittags aus, als ein Patient heranschwebte. Er trug einen weissen Anzug, der nach unten hin schwarz abgesetzt war, was, wie selbst Dr. Frosch, der Modewichser nicht ausstehen konnte, zuzugeben nicht umhinkam, sehr stimmungsvoll mit den blassroten Schaftstiefeln kontrastierte.

«What seems to be the problem?», fragte Dr. Frosch polyglott, denn er hatte zwei Auslandstage in Ayers Frog verbracht und nutzte seine dort erworbenen Sprachkenntnisse dann und wann, um sein provinzielles, sinnloses Wirken als böse Laune der Natur und Streich des Schicksals auszuweisen, vor allem Patienten gegenüber, die er nicht kannte und die einen weltläufigen Eindruck machten.

«Ich weiss nicht recht, wie ich es sagen soll», antwortete der neue Patient unbeeindruckt und zog ein Bein an den Bauch. «Ich habe das Gefühl, ich dürfte gar nicht hier sein.»

«Niemand zwingt Sie», sagte Dr. Frosch, der sich viel auf seinen feuchten Humor zugute hielt.

«Nein ...» Der Patient wühlte mit seinem Schnabel in seinem dichten Federkleid, als suche er dort nach den richtigen Worten. «Nicht ... nicht bei Ihnen hier. Mehr so ... generell.»

Dr. Frosch wollte schon eine sehr sarkastische Bemerkung machen und eine Überweisung zum Neurologen ausstellen, als ihn die Sache zu interessieren begann. Denn rein generell dürfte er, Dr. Frosch, ja auch nicht hier sein, sondern Projektleiter an einem schicken Institut für Lurchologie im Seefeld, mit einer autochthon warzigen Saftunke als Assistentin!

«Erzählen Sie», sagte er und legte seine acht Finger unter dem Kinn zusammen, wie es der Ochsenfrosch bei «In Treatment» immer tat.

«Na ja», sagte der Patient. «Wissen Sie ...Normalerweise müsste ich jetzt im Süden sein. Im Warmen. Alle sind in den Süden geflogen. Aber diesmal dachte ich, hey, kann es das wirklich sein? Jeden Herbst in den Süden fliegen? Nur weil das alle so machen? Ist das schon ein Grund? Was ist denn so toll da?» Er wandte den Kopf, als gäbe es im Wald irgendwas zu sehen. Gab es aber nicht, wie Dr. Frosch allerdings wusste.

«Schön, es ist warm. Aber wissen Sie, dass ich bis zu diesem Jahr noch niemals dieses ... weisse Zeugs gesehen habe?» Er beugte sich hinab und fuhr mit dem Schnabel über Dr. Froschs Schreibtisch, der schon wieder halb zugeschneit war.

«Schnee», half Dr. Frosch.

« ... Schnee», bestätigte der Patient vorsichtig und schwieg.

«Aber wo ist dann Ihr Problem?», fragte Dr. Frosch, ehrlich interessiert. «Es ist im Grunde sehr gesund, sich den Routinen des Alltags einmal zu entziehen, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und gegen den Strom zu schwimmen.» Das war natürlich sprachlich nicht ganz sauber und fast schon eine katachrestische Katastrophe, aber Dr. Frosch war schliesslich Mediziner und nicht Sprachkritiker. Und ausserdem Abonnent der «Froschfurter Rundschau», hauptsächlich der Farbe wegen, aber immerhin.

«Hunger», sagte der Patient so knapp, als sei es ihm peinlich. «Ich habe Hunger. Ich finde nichts zu essen.»

Dr. Frosch, das muss man sagen, hätte auch einen guten Journalisten abgegeben, so sprachlich nachlässig und schwer von Begriff, wie er war; denn es dauerte in Wahrheit bis zu diesem Moment, dass er den halbdepressiven Dandy als das identifizierte, was er war: als Froschgeier.

Instinktiv zog Dr. Frosch seinen Arztkittel über der Brust zusammen, um nicht sofort als Frosch ins Auge zu springen, aber das war natürlich Unsinn: Denn erstens war sein Arztkittel froschgrün, und zweitens stand auf seinem Schreibtisch ein Schild: «Dr. Frosch – frosch, fromm, fröhlich, frei! Alle Kassen». War das nun das Ende seiner Karriere? Einer Karriere, die (Dr. Frosch konnte selbst in diesem existenziellen Augenblick nicht umhin, auf seinem Ingrimm zu bestehen) im Grunde noch gar nicht begonnen hatte? Noch jemals beginnen würde, in diesem Scheissladen von Wald?

«Well», sagte Dr. Frosch anglophil, um Zeit und Autorität zu gewinnen. «Aus dem Alltag ausbrechen, gut und schön. Aber wenn es auf Kosten der Gesundheit geht, empfehle ich doch, äh ... die Rückkehr zur Routine. Was ich sagen will», und Dr. Frosch blies die Backen auf, um zu unterstreichen, dass es sich beim Folgenden um guten ärztlichen Rat handle, den anzunehmen nicht weniger als ein Gebot der Vernunft sei: «Nichts ist so aufregend, dass es den Tod lohnt. Lieber ein bisschen langweilig leben als auf der Überholspur sterben. Rebellion ist Kitsch, und Ortswechsel werden im Allgemeinen überschätzt. Deshalb: Fliegen Sie in den Süden. Noch heute.»

Der Froschgeier hatte aufmerksam zugehört und schwieg, als berechne er in Gedanken den ökologischen Fussabdruck, den die empfohlene Flugreise hinterlassen würde. Nach einer Weile, in der nichts zu hören war als das Geräusch von Schnee, der von Fichten fällt, senkte der Froschgeier sein Bein wieder auf den Boden, nickte mit dem Kopf und klapperte ein bisschen mit dem Schnabel. Es klang traurig, aber auch irgendwie erleichtert.

«Danke», sagte der Froschgeier, ohne auf Dr. Frosch als potenzielle Mahlzeit einzugehen, und verschwand. Vielleicht ass er aus Prinzip keine Ärzte?

Es war wieder ganz still in Dr. Froschs kleiner Waldpraxis, und als der erste Schrecken vorüber war, flog unseren Doktor ein Empfinden von Stolz an; Stolz sowohl darüber, dass er dieser heiklen Situation so glücklich entkommen war, wie auch angesichts des Umstands, dass er einem verzagten Froschgeier aus einer schweren Lebenskrise geholfen hatte. Mit einem durch und durch windigen Rat zwar, gewiss, und ohne Nahrung würde der Gute auch spätestens an den Alpen zerschellen; aber er, Dr. Frosch, war schliesslich nur ein Wald- und Wiesenarzt, der sich Tag für Tag mit Mühe aus seiner Winterstarre schälte, um seinen ärztlichen Pflichten zu obliegen. Er tat, was ihm gemäss war; denn war das nicht der beste Weg, sich nicht als Stümper erweisen zu müssen? Als noch grösserer Stümper, that is?

Im Wartezimmer hatte sich mittlerweile ein Schneehuhn eingefunden; wahrscheinlich ging ihm ein Marder schrecklich auf die Eier.

«Der Nächste, bitte», sagte Dr. Frosch und blies gedankenverloren die Backen auf.

Stefan Gärtner war von 1999 bis 2009 Redakteur beim deutschen Satiremagazin «Titanic», für das er heute als freier Mitarbeiter tätig ist.