Nature Writing: Der Biss: Ein Kuss?

Nr. 12 –

Die französische Anthropologin Nastassja Martin wurde von einem Bären attackiert. Ihre poetischen Aufzeichnungen erzählen davon, wie ein anderer Umgang mit unserer Mitwelt möglich wäre.

Am 25. August 2015 wird auf der russischen Halbinsel Kamtschatka eine 29-jährige Französin von einem Bären angefallen. Er beisst einen Teil ihres Unterkiefers weg – doch sie kann den Bären mit ihrem Eispickel in die Flucht schlagen. Wie durch ein Wunder überlebt sie.

So könnte eine Zeitungsmeldung zusammenfassen, was Nastassja Martin widerfahren ist. Die Anthropologin hat ihre Erfahrung in einem schmalen Buch beschrieben: wie sie dem Bären begegnete und von ihm verletzt wurde, wie man sie in Russland und Frankreich medizinisch behandelte und wie sie nach wenigen Monaten erneut nach Kamtschatka reiste. Es ist ein Buch, das einen die Welt neu sehen lässt. «Wie durch ein Wunder überlebt», so sagt man. Martins Worte sind andere. «Wunder» ist keine Analysekategorie, in der sie über das nachdenkt, was sie erlebt und überlebt hat: Martin ist Wissenschaftlerin; dem Bären begegnete sie während eines Forschungsaufenthalts bei den EwenInnen Kamtschatkas.

Die EwenInnen, über die Martin forschte, haben sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entschieden, ihr modernes sowjetisches Kolchoseleben aufzugeben und wieder in den Wäldern zu leben, wie es ihre VorfahrInnen jahrhundertelang taten. Sie haben sich entschieden, mit den Wesen der Wälder zusammenzuleben (wenn auch mit Motorschlitten und moderner Bildung). Martin interessiert sich für diesen Animismus – eine Weltsicht, die keine scharfen Grenzen zwischen dem Menschen und der nichtmenschlichen Natur zieht, wie es das moderne Denken tut. Sie interessiert sich insbesondere für das, was in der Fachsprache das «Liminale» heisst – das Dazwischen, das Nicht-mehr und Noch-nicht, das Sowohl-als-auch. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Denken die Träume. Träume verbinden Wesen: Man kann nicht nur von anderen Wesen träumen, sondern auch mit ihnen und so mit ihnen in einen Dialog treten.

Jenseits aller Schmerzen

Martin war eine gute Träumerin. Sie träumte «mit dem Wald». «Matucha» nannten sie die EwenInnen: Bärin. Die Wissenschaftlerin führte zweierlei Notizhefte: Die Taghefte für das objektive Beobachten, die Nachthefte für das Subjektive, für ihre offenen Fragen, ihre Unsicherheiten und Ängste – «lückenhaft, fragmentarisch, instabil». In Rückblenden erzählt Martin, wie sich diese beiden Sphären immer mehr zu vermischen begannen. 2015 flüchtete sie vor dem animistischen System von Bedeutungen und Resonanzen, das ihr bedrohlich geworden war, auf eine Bergtour; dorthin, wo es Fels, Eis, Kälte und Leere gibt, aber «bloss kein Schicksal mehr und erst recht keine Zeichen». Doch in der Nacht auf der Bergtour suchten Albtraumbären sie heim – und auf dem Rückweg begegnete sie einem richtigen Bären.

Das, wovor sie geflüchtet war, holte sie nun vollends ein. Der Bär und sie gerieten aneinander, ineinander: «Wie in den Zeiten des Mythos herrscht Ununterschiedenheit, ich bin diese undeutliche Form», schreibt Martin über ihren Zustand, als sie auf den Rettungshelikopter wartet. Für die EwenInnen ist sie «miedka» geworden, «vom Bären gezeichnet». Wer miedka ist, ist selber halb Bär. Ganz anders deuten die Freundinnen von Martins Mutter zu Hause in Frankreich den Vorfall: Das sei passiert, weil Nastassja als Kind zu wenig Grenzen gesetzt bekommen habe.

Martins Buch handelt vom Miedka-Werden – ein zuallererst körperlicher Vorgang: «Ich bin jenseits aller Schmerzen», schreibt sie über die erste Notversorgung; «ich bin von meinem Körper losgelöst und bewohne ihn zugleich noch.» Das Buch handelt vom Hadern mit ihrem Miedka-Sein und dem Sog dieses Zustands, der trotz des Traumas so stark ist, dass sie kein halbes Jahr später wieder nach Kamtschatka reist. Dafür findet sie eine poetische Sprache, die den Animismus ernst nimmt, aber nie esoterisch wird; die voller Zärtlichkeit ist, aber nie kitschig.

Wenn die Grenzen implodieren

Die EwenInnen glauben, dass ein Bär einen Menschen angreift, der ihn angeblickt hat, weil es der Bär nicht erträgt, in den Menschenaugen das Spiegelbild seiner Seele zu sehen. Darja, Martins engste ewenische Vertraute, sagt: «Du bist das Geschenk, das die Bären uns gemacht haben, indem sie dich am Leben gelassen haben.» Diese Aussage rührt Martin genauso, wie sie sich darüber empört, weil die Aussage sie und den Bären «zum Ausdruck von etwas anderem als uns selbst» macht. Sie wehrt sich dagegen, der Begegnung einen Sinn zu geben, statt diesen Sinn in der Schwebe zu lassen und sich einzugestehen, dass sie nicht versteht.

Aber auch Martin ist «ihrem» Bären nicht böse, geradezu zärtlich schreibt sie über ihn, schreibt über «die Schönheit dieser Sache, die passiert ist, die mir passiert ist»; den Biss des Bären nennt sie einen «Kuss, intim über jede Vorstellung hinaus». «Das Ereignis an diesem 25. August ist nicht: Irgendwo in den Bergen von Kamtschatka greift ein Bär eine französische Anthropologin an», heisst es auf einer der letzten Seiten des Buchs. «Das Ereignis ist: Ein Bär und eine Frau begegnen sich, und die Grenzen zwischen den Welten implodieren.»

Martin wehrt sich gegen ein voreiliges Verstehen ihrer Begegnung; als LeserIn kann man noch viel weniger verstehen. Aber Martins Buch gibt eine Ahnung davon, dass es eine Art gibt, anders mit unserer Mitwelt umzugehen, als es das rationalistische Denken tut, das diese Mitwelt zum ausbeutbaren Objekt degradiert und zerstört.

Nastassja Martin: An das Wilde glauben. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2021. 139 Seiten. 28 Franken