Ein Traum der Welt: Orgasmus im Plural

Nr. 15 –

Annette Hug schrammt an einer Übersetzungspolemik vorbei

Wer kann «The Hill We Climb» von Amanda Gorman, das symbolträchtige Gedicht zur Inauguration von Joe Biden und Kamala Harris, gut übersetzen? Wer soll stellvertretend für die junge, afroamerikanische Dichterin in europäischen Sprachen auftreten, um eine neue Ära einzuläuten? Wer sich in dieser Debatte verliert, findet kaum Stimmen, die explizit fordern, dass Autorin und Übersetzerin eines Textes immer derselben gesellschaftlichen Gruppe angehören sollen. Umso mehr Stimmen erheben sich gegen diese Forderung, kritisierte Verlage wirken kopflos. Die wichtige Frage, an wen prestigeträchtige Aufträge im Literaturbetrieb vergeben werden, verwirrt sich mit literarischen Überlegungen.

Schon vor einiger Zeit hat Aude Sécheret, französische Übersetzerin eines englischen Essays der Journalistin und Autorin Sarah Barmak über den weiblichen Orgasmus, dafür plädiert, dass feministische Texte von Frauen von Frauen zu übersetzen seien. Rätselhaft wird ihr Blogeintrag ausgerechnet da, wo sie von einem weiblichen Wissen über Körper ausgeht. Wie ist der Satz «some can’t touch themselves» zu übersetzen? Mit «some» seien «einige Frauen» gemeint, schreibt Sécheret und kommt dann über einen schönen Exkurs zur Reinlichkeitserziehung darauf, ein generelles weibliches Wissen über schambesetzte Berührungen vorauszusetzen. «Manche können ihr Geschlecht nicht mit den Händen berühren», übersetzt sie und lehnt den Vorschlag eines männlichen Gegenlesers ab, der eine einfachere Lösung vorschlug: «Manche können nicht masturbieren.»

Sécherets Argumentation versetzt mich zurück in die frühen neunziger Jahre, als Liebhaberinnen einer neuen oder französischen oder urtümlichen Weiblichkeit philosophische Welten aus dem Mysterium vaginaler Höhlen errichteten. Wenn ich ihnen zuhörte, schien das Mädchen, das einfach mal hineingegriffen hatte, plötzlich abnorm. Wie konnte so ohne Weiteres klar werden, was Spass macht? Obwohl dann der seltsame Geruch der Finger undeutlich an Sünde denken liess. An Höllengestank. Dabei war das Mädchen gar nicht katholisch. Und fand es aufregend, mit Freundinnen zu meditieren. Über dem Körper zu schweben. Sie nannten das Alphazustand. Das Mädchen flog also durch Landschaften, die es sich ausmalte, und fand da einen sehr attraktiven Jungen. Im Alphazustand nackt zu werden, war die ultimative Flucht aus der Hölle, denn meditierend erreichte das Mädchen einen Orgasmus, ohne sich auch nur einmal mit der Hand zu berühren. Aber das kann nicht gemeint sein mit dem Satz: «Some can’t touch themselves».

Eine Übersetzerin, die denkt, sie verstehe mich besonders gut, weil sie auch eine Frau sei, erscheint mir ziemlich bedrohlich. Dagegen stehen Stimmen von ÜbersetzerInnen, die den Zweifel und das anfängliche Nichtverstehen ins Zentrum stellen. Olga Radetzkaja geht vom «Eros des Unidentischen» aus. Dabei behauptet sie nicht, jede könne jeden übersetzen. Im Gegenteil: «Ob ich einen Zugang finde, die richtige Stelle für Absprung und Landung, entscheidet sich an einem Rhythmus, der mir plötzlich in die Satzglieder fährt, einer Verbindung von Schwere und Leichtigkeit, Hitze und Kälte, die mir vage vertraut ist, einer aufblitzenden Freude, die ich im Hinterkopf spüre, einem Gelächter oder unterdrückten Stöhnen, das mir in der Kehle kratzt und mich – auf Ideen bringt.»

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich. Sie empfiehlt die Reihe «Berührungsängste» auf der Plattform toledo-programm.de , zum Beispiel die Beiträge von Olga Radetzkaja, Julie Tirard, Camille Luscher und Alexandre Pateau.