Ein Traum der Welt: Geballte Geschichte
Annette Hug ist in mehreren Beizen zugleich
Ist das jener Saal? Die fein ziselierten Gläser der Zwischenfenster lassen es vermuten. Eine perfekte Bühne für die junge Frau, die sich zum ersten Mal traut, vor der Gemeinde zu sprechen. Im Spielfilm «Die göttliche Ordnung» steht sie da und wird ausgebuht. Die Kamera zeigt ihr tapferes Gesicht, und das Kinopublikum weiss: Sie wird recht behalten, die Schweizer Frauen werden das Stimmrecht erlangen.
Im Juli 2021 sitzen etwa dreissig Leute in jenem Saal im Appenzellischen, und der Wirt bestätigt: «Ja, hier wurde gefilmt.» Da, wo im Kino die junge Frau zu sehen war, steht jetzt ein dunkelroter Plüschsessel. «Autobiographietage» sind angekündigt. Wer hier vorliest, hat in einem Schreibkurs oder über eine Onlineplattform Texte geschrieben. Ein Philosophieprofessor und eine Schriftstellerin kommentieren. In der dichten Abfolge entsteht ein Ritt durch die Geschichte: aus dem Rickentunnel, wo Eisenbahner zu Tode kommen, hinein in die Dreharbeiten in einem Bündner Bergdorf. Therese Giehse, aus Deutschland geflüchtet, spielt an der Seite von Dorfkindern, die sich selber spielen. In einem Appenzeller Bauernhaus steht noch ein Pantograf. Zwanzig Jahre später gefriert der Bodensee. Bei den Fluglotsen in Kloten werden neue Beobachtungsposten «reingequetscht», die Luftfahrt boomt. Zwei Reiseleiterinnen rekognoszieren auf Teneriffa, markieren Steine am Weg mit mitgeführter Farbe. Ein einfaches Mietshaus mit «Balkonen wie Vogelnester» verzaubert mit seinen Lampen die Nacht, wie damals, als ein Mädchen noch nicht wusste, dass man sich für ein solches Zuhause schämen könnte.
Wann wird auch eine schmerzhafte Erfahrung im Rückblick schön? Wann lacht das Publikum laut auf? Wann bleibt allen das Lachen im Hals stecken? Wenn kaum zu glauben ist, wie jemand die Ruhe, den Mut und eine Form findet, um auf einem Plüschsessel vor Publikum von schwerer Gewalt zu erzählen.
Eine andere Gaststube, auch im Appenzellischen, wird angerufen. Zwei Bäckermeister regieren hier sanft, Ende der sechziger Jahre. Zigarettenrauch und der Duft aus der Backstube vermischen sich anziehend. Es treten ein: ganz junge Männer und eine junge Frau. Schmähreden vom Stammtisch: «Langhaarige Affen». Sexistisches. Einer der Jungen nennt sich Piotr. Wer in Zukunft etwas zu sagen hat, wird hier neu verhandelt. Die Bäckermeister schaffen mit ihrer Beiz eine Bühne dafür.
Versteckter und fieser sind Schmähreden gegen eine Mutter, die zwei Schwarze Kinder auf die Welt gebracht hat. Von einem Vater, der verschwunden ist. Einer der Söhne wird darüber schreiben. Und da sind Kinder, die neu in ein Dorf kommen und nichts verstehen. Eine lyrische Reihung deutscher Blumen- und Pilznamen lässt das serbische Dorf aufscheinen, in dem die Grossmutter zurückblieb.
Mehrmals taucht die Frage auf: Wer schreibt eigentlich, wenn «ich» schreibe? Wer sind die «Dreinschnorrer» im Kopf, die alles noch ganz anders wollen? Wer darf zweifeln? Fragen stellen? Literarisch einordnen? Wer will bewerten? Vorsicht vor der Kulisse, denke ich, und mache mir doch Gedanken über Demokratie und Literatur, über Stimmen und Stimmrecht. Aber nur kurz, denn schon trödeln zwei Jungen auf dem Heimweg, wie das so geht, und mit ihrem Umweg beginnt eine weitere Geschichte.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und war zu Gast in Heiden, wo Alfred Messerli und Gustav Schneiter zu einem Festival ganz eigener Art einluden.