John Grant: Sauber abgehängter Stier

Nr. 27 –

Ein lebenslanges Ringen mit den Monstern der Vergangenheit in Worte und Klänge gegossen: Der HIV-positive US-Musiker John Grant umgarnt auf seinem neuen Album alle Warmherzigen und Sprachvernarrten.

Wider den Kult der Männlichkeit: John Grants amerikanischer Traum endet nicht an Staatsgrenzen. Foto: Hördur Sveinsson

Ein Elefant steht im Raum jeder Kunst, ein mehr oder weniger offenes Geheimnis, das die Produktion antreibt. Auf «Boy from Michigan», dem fünften Album des Sängers John Grant, erscheint der Elefant als rostiger Stier. Sieben Meter hoch, bewacht die Metallskulptur einen Schrottplatz aus Grants Kindheit in Michigan. Es ist ein Lieblingsort seines Vaters, eines Ingenieurs, aber der kleine John wird von dem Monster am Eingang bis in die Träume verfolgt. «Dein Vater kann nicht ungeschehen machen, was feststeht», droht es ihm im Song «Rusty Bull» zu einem stampfenden funky Digitalbeat. «Und vierzig Jahre später», singt Grant weiter, «versuche ich immer noch, ihm zu entkommen.» Über epische 75 Minuten erzählt Grant auf dem grossartigen neuen Album von den Motiven dieser Flucht: eine Art musikalischer Bildungsroman, von der Kindheit in den USA zum erwachsenen Blick auf seine Heimat aus der Ferne Islands, wo er seit zehn Jahren lebt.

Grant führt uns mit seinem schmelzend hellen Bariton in den ersten Stücken zurück in sein Leben an der Schwelle zum Teenager in den Siebzigern. Aber schon im einleitenden Titelstück mischt sich in die romantisch fehlfarbenen Bilder der nähenden Mutter und des Spielplatzes, von sommerlichen Sonnenuntergängen und den Knospen des Frühlings ein anderer Ton. Im weich melodischen, jazzigen Bassbounce verweht schief ein Saxofon, rätselhafte Elektronik rauscht, und ausgebrannte Autos und die Gräber des Friedhofs tauchen auf. Ein Freund warnt ihn, nie die Deckung aufzugeben: «Vorsicht!», so der Refrain, «der amerikanische Traum ist nicht für schwache, warmherzige Narren gemacht.»

An der stilistischen Leine

Insbesondere nicht für schwule junge Männer in der US-Provinz. Die homophobe Gewalt in den sozialen Institutionen, in der Familie, in der Schule, unter Freunden ziehen sich durch Grants gesamtes Solowerk seit dem Debüt «Queen of Denmark» im Jahr 2010. Oft taucht diese Gewalt in selbstquälerischen bis sarkastischen und wütenden Songs auf, in denen sich Konzepte von Liebe und Beziehung an einem ramponierten Selbstwert, an Ängsten und Depressionen reiben. Dazu brach Grant sein siebzigerinspiriertes, am Klavier geschriebenes Songwriting gern mit Elektrobeats und Geräuschen sowie einem furchtlos dem Camp begegnenden Pathos.

Diesmal hat ihn seine Produzentin, die walisische Künstlerin Cate Le Bon, elegant an die stilistische Leine gelegt. Das Klangrepertoire bleibt offen, aber mit Le Bons Hilfe klingt es sorgfältiger sortiert. Zu Softrock und Wave-Pop notiert Grant Tränen auf dem Rummelplatz, die Zurückweisung durch die Eltern, die erwachende Sexualität. Zärtlich erinnert er sich in «The Cruise Room» an die unschuldige Erwartung, mit der er einem Freund begegnet; in der atmosphärischen Traumwelt von «Mike and Julie» versteckt er sich hinter Julie und ignoriert aus Scham Mike, seinen ersten Sexpartner.

Sein Coming-out hatte Grant, Jahrgang 1968, erst mit 25 und, sagt er, unterstützt von sehr viel Alkohol, als er nach einem Studium in Heidelberg in die USA zurückkam; als Ergebnis der Flucht in die Sprache spricht er akzentfrei Deutsch, dazu Russisch, Spanisch und mittlerweile Isländisch. 1994 gründete er die Indieband The Czars – KritikerInnenliebling, Ladenblei –, die knapp zehn Jahre später wesentlich an Grants exzessivem Lebensstil scheiterte. Kokain und Alkohol entzog er 2004 erfolgreich, aber es dauerte noch sechs Jahre, in denen er kellnerte, als Russischübersetzer für ein Krankenhaus arbeitete oder sich mit Panikattacken selbst einlieferte, bis er den musikalischen Neuanfang wagte. Mit unerwartetem Erfolg, diesmal nicht nur bei der Kritik: Die Alben landen in den europäischen Top Ten, die Konzerte füllen 5000er-Hallen, Elton John, Idol und Inspiration, zählt zu seinen Fans und Freunden.

Das verdankt er vor allem dem offensiven Umgang mit all den Dingen, die ihn seit der Jugend geplagt hatten. Von hier aus liesse er sich als Vorbild für die Songwriterinnen einer jungen Generation verstehen, die wie gerade Julien Baker und Lucy Dacus mit literarischer Verve die queere Jugend in der konservativen US-Provinz besingen. Doch gegenüber Grant wirken noch die offensten «confessional songs» verschlossen. Grant verbreitete 2012 umgehend die Nachricht seiner HIV-Infektion von der Konzertbühne – die Folge eines, wie er es nennt, «destruktiven Umgangs mit Sex».

Existenzielles Konjugieren

Dass er die Fans mit seinen Krisen und Ängsten nicht erdrückt, liegt wiederum an einer eloquenten Selbstverachtung und seinem düsteren Humor. «Liebe mich, solange es noch ein Verbrechen ist, aber vergiss nicht, wie viel du dabei lachen wirst», schmachtet er 2013 in einem Song auf seinem zweiten Album «Pale Green Ghosts», in dem er sich zum «GMF», zum «greatest motherfucker you’re ever gonna meet», erklärt.

In seinem bekanntesten Stück, «Disappointing», zwei Jahre später auf «Grey Tickles, Black Pressure» veröffentlicht, erklärt er seine tiefe Liebe, indem er eine lange Liste aller Dinge, die er mag, vor dem geliebten Menschen verblassen lässt. Auf einem Stück gelingt ihm dort sogar die schwierige dialektische Volte, sich im Angesicht von an HIV sterbenden afrikanischen Kindern für sein Selbstmitleid zu geisseln, um zugleich sein Recht aufs Jammern zu behaupten.

«Ich konjugiere, also bin ich», verkündet er nun in «Rhetorical Figure». Mit abseitigen Fachbegriffen – Epizeuxis, Paraprosdokian, Antirrhesis jemand? – feiert er darauf die Sexyness des sprachbegabten Intellekts. Seine Lieblingsfigur: die «ASSonance». Zugleich schwingt er sich mit diesem auch musikalisch recht skurrilen Lied auf die Metaebene aus drei Songs, die gleichsam abstrakt die Trilogie spiegeln, mit der er das Album eröffnet: In «Your Portfolio» beschreibt er die Geldgeilheit der Welt, als bete er einen erigierten Penis an. Im fast zehnminütigen «The Only Baby» tobt er – das Album wurde im letzten Jahr aufgenommen – gegen Trump, der ihm als unausweichliche Konsequenz der Geschichte von christlicher Heuchelei, materialistischem Fetisch und Sklaverei erscheint. Und schliesslich endet er mit einem recht klassisch gebauten Liebeslied, das Elton Johns «Your Song» zitiert. Es geht darin um Unschuld und Scham, um sozialen Druck und Selbstzerstörung – um das Buckeln vor dem, das sind die letzten Worte des Albums, «Kult der Männlichkeit».

Denn genau davon handelt dieses schöne Album: vom Gesetz der Stärke und Dominanz, wie es uns im Kleinen wie im Grossen prägt, wie es das Denken, die Liebe, die Gesellschaft bedrückt – und nicht nur kleine, schwule Jungs aus Michigan quält, sondern allen die Luft nimmt, die sich nicht wehren können. Grants amerikanischer Traum endet daher nicht an Staatsgrenzen. Doch auch wenn dieser ihn als rostiger Stier bis heute verfolgt – hier hat er ihn erst einmal sauber abgehängt.

John Grant: Boy from Michigan. Pias/Bella Union/Rough Trade. 2021