Untergang einer Arbeiterzeitung Verhockte Strukturen, fehlende Investitionen und ein autoritärer Gewerkschaftsboss: Susan Boos, Andreas Fagetti und André Gunz, ehemalige RedaktorInnen der «Ostschweizer AZ» (1904–1996), über ihre Arbeit in einer linken regionalen Zeitung und die Frage, ob die «AZ» zu retten gewesen wäre.
WOZ: André Gunz, du warst viele Jahre Redaktor der «Ostschweizer AZ» in St. Gallen. Wann hast du bei der «Arbeiterzeitung» angefangen?
André Gunz: Am 3. Januar 1974. Das weiss ich noch genau, weil an meinem ersten Arbeitstag in Oberriet ein Zöllner erschossen wurde. Wir versuchten damals, aus der «Ostschweizer AZ» eine Art Boulevardzeitung zu machen, und mussten natürlich sofort dorthin. So ist mir dieser Tag im Gedächtnis geblieben. Ich hatte schon früher gelegentlich für die «Ostschweizer AZ» geschrieben, und als dann das Projekt einer linken Boulevardzeitung begann, wurde ich gefragt, ob ich mitmache. Bis dahin arbeitete ich bei einer Bank, prüfte Bilanzen und dachte, Journalismus wäre sicher spannender. Die Sache mit dem linken Boulevard ging aber schief.
Was war die Idee?
Gunz: Das Konzept stammte vor allem von Georges Wüthrich, der später Chefreporter beim «Blick» geworden ist. Wir waren zu viert auf der Redaktion. Georges hatte die Idee und überzeugte die Parteileute der SP davon. Dann holte man mit Franz Muhr einen Spezialisten von der «Kronen Zeitung» oder dem «Kurier» in Österreich. Die dritte Person war Michael Guggenheimer, der später Präsident des Schriftstellerverbands PEN wurde. Er und ich waren wohl beide nicht wirklich die Typen für eine Boulevardzeitung. Wüthrich und Muhr aber konnten die Dinge so machen, wie sie der «Blick» auch machte. Die «AZ» kam damals am Nachmittag heraus, weil so der Druck billiger war. Wir wollten daraus das Beste machen und eine Art Pendlerzeitung sein. Dazu hätte man an den Bahnhofskiosken präsent sein müssen, doch dafür fehlte das nötige Kapital. Gleichzeitig eckten wir bei der traditionellen sozialdemokratischen Leserschaft an, die eher älteren Jahrgangs war und den Boulevardstil nicht so goutierte. Ich weiss nicht mehr genau, wie lange ich blieb. Danach arbeitete ich ein Jahr als Hausmann und als Parteisekretär für die SP St. Gallen. Nachdem das Projekt gescheitert war, hat man mich zurückgeholt.
Und da war die AZ keine Boulevardzeitung mehr?
Gunz: Man stellte wieder um und tat sich mit der «Thurgauer AZ» in Arbon zusammen, bei der auch gedruckt wurde. Das «Badener Tagblatt» lieferte den Inland- und den Auslandteil.
Weil die «Berner Tagwacht», die das ebenfalls angeboten hatte, teurer war.
Gunz: Genau. In der Redaktion arbeiteten wir zu dritt, mit etwas mehr als 200 Stellenprozent.
Wie bist du zur «AZ» gekommen, Susan Boos?
Susan Boos: Ich hatte das Lehrerseminar abgeschlossen und keine Lust aufs Unterrichten. Ich wollte an die Hochschule, bis dahin hatte ich ein halbes Jahr frei. Also meldete ich mich bei der AZ. Das war 1984, nach dem 1. Mai. Ich fragte: Kann man bei euch ein Praktikum machen? André sagte am Telefon: Komm einfach vorbei. So war ich ein halbes Jahr lang Praktikantin. Von Journalismus hatte ich noch gar keine Ahnung, ich war erst zwanzig Jahre alt, aber André schickte mich sofort auf die Piste. Die erste Pressekonferenz, an der ich teilnahm, war die Eröffnung einer Kosmetikschule. Kannst du dich daran erinnern, André? Der Journalismus bietet ja die Möglichkeit, völlig neue Welten zu entdecken, und das war genau ein Ort, an den ich sonst nie hingekommen wäre. Pressekonferenzen gab es viele, niemand von der Redaktion wollte hingehen. Aber wenn man so jung war wie ich, dann war das super.
Wurdest du bald fest angestellt?
Boos: Das erste halbe Jahr arbeitete ich jeden Tag, danach reduzierten die beiden Redaktoren André Gunz und Ralph Hug ihre Pensen, und ich bekam eine Zwanzigprozentstelle. 1989 hörte Ralph auf, ich wurde Vollzeitredaktorin. Bis 1991.
Was für ein Blatt war die «AZ»?
Boos: Klein, aber fein. Wenn du so wenig Personal hast, dann lebt eine Zeitung noch viel stärker von den einzelnen Schreiberinnen und Schreibern. Mein Glück war, dass André das Politische wirklich im Griff hatte. Ich hatte immer den Eindruck, er kenne jeden Menschen in der Stadt und im Kanton, jede Regung in der Partei. Die «AZ» war eine politische Zeitung, aber sehr, sehr unverkrampft.
Warst du SP-Mitglied?
Boos: Als ich fest angestellt wurde, hat man mich gebeten, in die SP einzutreten. Ich sass dann sogar im Parteivorstand, weil man dort eine enge Verbindung zur Zeitung wollte.
Gunz: Wir waren wahnsinnig froh um Susan! Vieles in der «AZ» war ja etwas selbst gebastelt, aber es gab wirklich einen Freiraum, bei aller Nähe zur Partei. Gleichzeitig hatte ich oft das Gefühl: Das hat doch keine Zukunft! Im November kamen jeweils die Abo-Abbestellungen. Viele Abonnenten und Abonnentinnen starben übers Jahr. Es hätte ein Wunder geschehen müssen.
Ein todgeweihtes Blatt?
Gunz: Das habe ich damals lieber etwas verdrängt. Ganz am Anfang hatte mir ein SP-Regierungsrat versprochen: Falls es zu Ende geht, bekommst du bei mir einen Posten.
Im Departement?
Gunz: Es ist ein bisschen anrüchig, ja, aber er sorgte für seine Leute, und mir gab es eine gewisse Sicherheit. Damals hatte ich noch keine Kinder, meine Frau arbeitete ebenfalls. Da gehst du noch lockerer in so eine Sache hinein. – Aber wenn du nun von uns wissen willst, warum es mit den Arbeiterzeitungen nicht funktionierte, dann musst du das «Volksrecht» in Zürich anschauen. In Zürich hatten die Sozis eine ganz andere, viel wichtigere Stellung als in St. Gallen. Und dort ging es auch nicht.
Andreas Fagetti, wie bist du zur «Ostschweizer AZ» gekommen?
Andreas Fagetti: Ich war zuvor bei der «Ostschweiz» …
… der St. Galler CVP-Zeitung …
Fagetti: … und habe dort eine Art Volontariat gemacht. Nach zwei Jahren sagte der Chefredaktor: Ich würde dich gerne einstellen, aber beim Verwaltungsrat hast du gar keine Chance. Ich galt als links. Dabei war ich kein politischer Linker, eher so eine Art Gefühlslinker, der sich in der CVP-Zeitung auch einmal für einen SP-Gemeinderat in Wittenbach einsetzen konnte, was natürlich Probleme verursachte. Übers Redaktionsbudget hat man mich trotzdem weiterbeschäftigt, und dann wurde diese Stelle bei der «AZ» frei.
Du hast sie bekommen.
Fagetti: Ich nehme an, es meldeten sich ausser mir nicht sehr viele Leute. Im März 1991 habe ich dort angefangen, als Nachfolger von Susan, die auf dem Sprung zur WOZ war. Erst hatte ich ziemliche Bedenken, weil ich politisch nicht so erfahren war. Aber man sagte mir: Da ist ja noch André, der weiss alles und kennt sich aus. Doch schon im April wurde bekannt, dass André ebenfalls ging. Er wurde Kulturbeauftragter bei der Stadt St. Gallen. So stand ich nun da, als Redaktor relativ unerfahren und im sozialdemokratischen Milieu völlig unbeleckt. Trotzdem, ich legte mich ins Zeug. Es war sehr interessant. Ich sass wie Susan im lokalen Parteivorstand und lernte sehr viel darüber, wie Parteien und Politik funktionieren. Bald störten mich allerdings die nepotistischen Verhältnisse, die bei der «AZ» herrschten.
Die «AZ» war eine Aktiengesellschaft und wurde von Toni Falk präsidiert, dem mächtigen Sekretär des kantonalen Gewerkschaftskartells, des heutigen Gewerkschaftsbunds.
Fagetti: Zwei seiner Söhne waren in dem Gebäude der «AZ» als Gewerbetreibende eingemietet, die Schwiegertochter putzte, und ein Sohn brachte nachts die Druckplatten nach Schaffhausen zur Druckerei und die gedruckte Auflage von dort zur Post nach Winterthur. Für diese vier Stunden Arbeit verdiente er dem Vernehmen nach eineinhalbmal so viel wie ich. Und wir hatten in der Redaktion gerade mal eine Telefonleitung!
Eine einzige Leitung?
Fagetti: Die Verhältnisse waren absurd.
Wie viel hast du verdient?
Fagetti: 4500 Franken. Etwa 1100 Franken unter dem GAV-Lohn, dazu vier Wochen Ferien. Am Schluss bekam ich dann gegen 5000 Franken. Ein Redaktionsbudget hatten wir nicht. Wenn ich einen Bleistift kaufte, dann musste ich den Kassenzettel zum Verwaltungsratspräsidenten bringen. Er gab mir die siebzig Rappen oder wie viel es gekostet hat.
Wir sollten erzählen, wie Toni Falk in diese Position kam. 1981 hatte er Geld gesammelt, mehr als eine halbe Million Franken, und die «AZ» gerettet.
Fagetti: Das Geld kam hauptsächlich von den Gewerkschaften. Die Metallarbeitergewerkschaft SMUV war die grösste Aktionärin. Die Firma war nun gut kapitalisiert, aber Falk investierte nichts in die Zeitung.
Am Schluss wurde das Aktienkapital zurückgegeben statt investiert.
Fagetti: Ja, das war wohl auch der Grund, warum es für zwei Redaktoren und eine redaktionelle Mitarbeiterin nur eine Telefonleitung gab.
Gunz: Falks Art zu wirken hatte etwas Stalinistisches, wie man es von den Gewerkschaften damals ja kannte. Er konnte mit Macht umgehen. Wenn ihm eine Sache wichtig war, organisierte er zu einer Veranstaltung die nötigen Leute. Die stimmten dann geschlossen für Toni – wie eine Wand.
Wie stand es um die redaktionelle Freiheit?
Gunz: Falk wusste natürlich, dass er uns gewisse Freiheiten lassen musste, sonst hätten wir diese Arbeit ja gar nicht gemacht. Ich fühlte mich nie eingeschränkt, auch von der Partei nicht, der ich aber relativ nahestand.
Boos: Ich hatte nie den Eindruck, dass uns inhaltlich Grenzen gesetzt wurden oder dass jemand versuchte, uns dreinzureden. Wenn es Einflussversuche gab, dann hat André mich wohl davor abgeschirmt. Wie war es bei dir, Andreas?
Fagetti: Journalistisch habe ich mich auch nicht eingeschränkt gefühlt. Aber natürlich war immer klar, gegen wen man geschossen hat und gegen wen nicht.
Dass die Zeitung «AZ» hiess, also «Arbeiterzeitung», hatte das für euch noch eine Bedeutung?
Boos: Dass es eine linke Zeitung war, das war sehr wichtig. Es gab verschiedene Themen, die wir bei der «AZ» früher und anders aufgenommen haben als andere. Zum Beispiel die Debatte über die Schweiz in der Zeit des Nationalsozialismus. Viele Jahre bevor andere Zeitungen darüber schrieben, hat André eine historische Serie angestossen.
Gunz: Wir haben auch früh ökologische Themen aufgegriffen. Was die Arbeiterschaft betrifft: Man sah natürlich, dass die Arbeiterbewegung im klassischen Sinn am Wegbrechen war. Unter den Abonnentinnen und Abonnenten wurden die Arbeiterinnen und Arbeiter immer seltener. Selbst mit dem Boulevardkonzept in den siebziger Jahren hatten wir das nicht aufhalten können.
Fagetti: Die «AZ» war auch eine Gegenstimme im stockbürgerlichen St. Gallen. Nicht ganz unwichtig, glaube ich, für neuere soziale Bewegungen: für feministische Gruppen, für den Widerstand gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen, für eine liberale Drogenpolitik, für die Leute um die Grabenhalle. Die hatten zwar ihre eigene «Graben-Zeitung», aber mit einer Auflage von nur etwa 500 Stück. Die Auflage der «AZ» lag bei 1800.
Boos: Gerade wegen dem Verhalten von Toni Falk bekam ich damals ein sehr schlechtes Bild von den Gewerkschaften und damit von der Arbeiterbewegung. Falk breitete sich in der Zeitung aus wie ein bürgerlich-kapitalistischer Patron. Dass es auch Gewerkschaften gibt, die gute Arbeit leisten, habe ich erst viel später gelernt.
André, warum hast du die «Ostschweizer AZ» verlassen?
Gunz: Na ja, 17 Jahre sind eine lange Zeit, und die Arbeit als Kulturbeauftragter hat mich interessiert. Ganz im Geheimen hatte ich immer gedacht: Wenn es mal eine gute Chance gibt, dann musst du weg. Der Journalismus war eine schöne Zeit, aber ich habe auch im richtigen Moment aufgehört.
Susan, warum bist du von der «AZ» weggegangen?
Boos: Weil André wegging. Für mich war klar, das Ding ist alleine nicht zu stemmen. Ohne seine Verbindungen geht es nicht. Unsere Redaktion war sehr dynamisch. Aber rundherum war alles paralysiert. Man versuchte ja damals, einen gemeinsamen Inland-/Ausland-Mantel der «AZ»-Presse aufzubauen, zu dem alle Redaktionen ihre Lokalteile beisteuern konnten. Funktioniert hat das nie wirklich. Es gab zu viele Häuptlinge, die ihre Territorien verteidigten. Wenn wir heute am gleichen Punkt wären wie Anfang der neunziger Jahre, könnte man das Projekt «AZ» vielleicht retten, weil wir ganz andere technische Möglichkeiten haben. Aber damals war die Situation dermassen perspektivlos. Als ich wusste, dass André wegwollte, kam gerade die Anfrage der WOZ: Es war klar, dass ich nach Zürich gehen würde, wenn André auch ging.
Warum bist du gegangen, Andreas?
Fagetti: Ich fand die Aufgabe zwar spannend, aber ich wusste, dass es aussichtslos war. Hinzu kam, dass die redaktionelle Verantwortung vor allem bei mir lag, weil die anderen, die ich einstellte, keinerlei Erfahrung hatten. Und dann die Situation mit der verknöcherten Aktiengesellschaft: Wir haben uns einmal mit einem linken Genossen aus dem Verwaltungsrat getroffen, wir wollten, dass er und seine Kollegen Falk das Mandat wegnahmen. Er hatte diese Macht bei der «AZ» ja nur dank der Gewerkschaften. Aber das Treffen nützte nichts. Nach drei Jahren habe ich gekündigt und bin auf Reisen gegangen.
Falk war schuld?
Fagetti: Nein, das war nur eine bequeme Ausrede. Man hätte ihn aushebeln können, aber das wollte oder traute sich niemand. Wie gesagt, ich war sehr enttäuscht. Noch Jahre später wurde ich wütend, wenn ich an diese «AZ»-Geschichte dachte. Und kurz bevor die «Ostschweiz» mit dem «Tagblatt» fusioniert und es nur noch eine Zeitung gibt in St. Gallen, macht die «AZ» dicht und die Aktionäre bekommen ihr nicht investiertes Kapital zurück! Hätte die Zeitung nur ein Jahr länger durchgehalten, wäre die Ausgangslage auf dem Medienplatz St. Gallen anders gewesen.
Wie hätte man die «AZ» retten können?
Boos: Die Frage ist sehr hypothetisch. Hätten zehn Jahre später die richtigen Leute die «AZ»-Strukturen übernommen … wer weiss. In den neunziger Jahren war es einfach zu früh. Die alten Strukturen waren verhockt, die neuen elektronischen Möglichkeiten gab es noch nicht. Natürlich, heute wären die alten Strukturen nützlich.
Fagetti: Andererseits gibt es «Saiten», die Kulturzeitschrift, die sich von Anfang der neunziger Jahre bis heute halten konnte, mit einem völlig anderen Konzept und als Monatsmagazin.
André, gab es zu deiner Zeit auch Vorstellungen, wie man die «AZ» retten könnte?
Gunz: Ja, das gab es schon, zum Beispiel das Projekt einer Wochenzeitung. Aber ich weiss nicht, ob das besser geworden wäre. Es existierten damals noch acht «AZ»-Zeitungen in der Schweiz, und acht Schwache ergaben eben nicht einen Starken. Auch die Deutschen kriegten es mit der sozialdemokratischen Presse nicht hin, die Österreicher scheiterten mit der Wiener «Arbeiterzeitung». In der Schweiz verschwanden das «Volksrecht», die «Tagwacht» – wie sollten wir es dann in St. Gallen packen?
Fagetti: Auch dass eine Zeitung klar einer Partei zugeordnet sein konnte, war vorüber. Man hätte diese Parteinähe aufgeben müssen. Daran war aber natürlich die SP nicht interessiert.
Boos: Heute muss man das anders und neu denken. Die Medienkonzentration, die wir jetzt erleben, akzentuiert sich in den Regionen noch viel stärker als auf nationaler Ebene. In Kantonen wie St. Gallen oder Thurgau gibt es genau eine Monopolzeitung, die im Kern vom Aargau aus bespielt wird. Das machen die vielleicht nicht schlecht, ich kritisiere es nicht. Aber auf lokaler Ebene verschwindet der Wettbewerb. Wenn eine Politikerin einer Redaktion nicht gefällt, dann hat sie heute gar keinen Kanal mehr, um mit ihren Anliegen an die Öffentlichkeit zu gelangen. Auch die Social Media können das nicht ausgleichen. Deshalb brauchen wir dringend neue Kanäle und neue Publikumsmedien. Vielleicht leistet das irgendwann «Saiten» für St. Gallen, aber es ist wichtig, dass überall neue Medien entstehen, wie zum Beispiel «Bajour» in Basel, um eine Vielfalt der Stimmen wiederherzustellen. Die «AZ» ist 1996 gestorben, sie kann nicht mehr in die Lücke treten.