Von oben herab: Unter uns
Stefan Gärtner über das parasitäre Selbst
Von unserer neuen Wohnung aus geht der Blick ins Grüne, und eben mäht ein Mann den Rasen hinterm Haus. Während ich also am Schreibtisch sitze und für (Schweizer!) Geld räsoniere, geht unter mir jemand körperlicher Arbeit nach, und das war Peter Hacks ja längst aufgefallen: dass Kunst (oder auch bloss Schreibtischarbeit) ist, wenn jemand anderes dafür sorgt, dass es die Musse (oder auch bloss den Schreibtisch) dafür gibt.
Die Wohnung ist eine Mietwohnung. Der Blick ins Grüne wird teuer bezahlt, und dass die Dielen kaputt sind und die Wände morsch, macht nichts, denn wer hat, hat, und wer braucht, braucht, und den Rest regelt der Markt. Während also unter mir der Mann mit dem Mäher den Kampf mit dem zu feuchten Rasen ausficht und ich daraus eine Kolumne mache, geht ein Teil meines (Schweizer!) Geldes an die Instanz über mir, die davon profitiert, dass ich davon profitiere, dass der Mann am Mäher davon profitiert, dass es Fleisch, Kaffee und Schokolade zu Preisen gibt, die auch bei kleinerem Einkommen ein Auskommen sichern. Für die, die den Kaffee und den Kakao für die Schokolade pflanzen, gilt das nicht mehr unbedingt, denn damit die ihr Auskommen haben, müssen Leute wie ich die Fairtrade-Schokolade kaufen, die sich der Mann am Mäher nicht leisten kann oder will, damit er sich die Sachen leisten kann, die alle sich leisten.
Die Leute mit der Fairtrade-Schokolade sind jetzt das, was da «Kulturlinke» heisst oder, wie sich der SVP-Chef Marco Chiesa in seiner Rede zum 1. August boulevardesk ausdrückte, «Luxuslinke». Heisst: Leute, die nur links sind, weil sie sich das leisten können. Heisst: Es muss Menschen geben, die hart arbeiten, damit andere sich darin gefallen können, linksgrün zu sein, also Fairtrade-Schokolade zu kaufen. In der französischen Version von Chiesas Rede ist gar von «Parasiten» die Rede, was eine unverhohlen faschistische Wendung ist und womöglich darum in der deutschsprachigen Fassung nicht auftaucht.
Richtig ist, dass es ein linksliberales, eher grossstädtisches Bürgertum gibt, das Fairtrade-Schokolade kauft, aber kein Interesse daran hat (haben kann), für Besitzverhältnisse einzutreten, die Fairtrade als Regel statt Ausnahme kennen würden. Wer diese Leute Kultur-, Luxus- oder meinetwegen Lastenfahrradlinke nennt, sollte aber links von ihnen stehen. Steht er oder sie rechts von ihnen, dann geht es ihm oder ihr nicht um Gerechtigkeit für den Büezer, sondern um die Stabilität des Besitzverhältnisses: Die Wut der Büezerin wird umgeleitet, aber nicht auf den Besitz als solchen, sondern aufs kulturelle Kapital, das sich als «links» denunzieren lässt. In diesem Sinn wird das Kleinbürgertum in seinem Ressentiment wider all jene Sperenzchen bestärkt, die als Hohn aufs hart arbeitende Kleingewerbe verkauft werden, als litte das unter der Gendertoilette ärger als unter dem Grossgewerbe, also jener Instanz, die immer über einem ist und das letzte Wort hat: Muss man ja nicht mieten, die Wohnung, wenn sie einem zu teuer ist; muss man ja nicht machen, die Arbeit, wenn sie einem zu schmutzig und zu schlecht bezahlt ist. Auch das ist gemeint, wenn Chiesa leutselig dafür wirbt, die Schweiz als «freiestes Land der Welt» zu bewahren, in dem die «Bevormunder-Grünen» den Menschen nicht vorschreiben dürfen sollen, wie sie zu leben haben. Das soll nämlich bloss der Markt dürfen, allenfalls noch die SVP.
Faschismus, lautet ein unsterblicher Satz Walter Benjamins, verhilft den Leuten zu ihrem Ausdruck, nicht zu ihrem Recht, und Georg Christoph Lichtenberg notierte, dass die halbe Wahrheit schlimmer sei als die Lüge. Kapitalismus, so weit stimmts, ist eine parasitäre Veranstaltung. Parasitär sind aber nicht, wie der freundliche Chiesa freundlich hetzt, «Illegale» und «ständig neue Opfergruppen»; parasitär ist, wer von einem anderen lebt. Le parasite, c’est moi.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.
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