Wahlkampf in Russland: Der lange Weg in die Duma
Mitte September wird in Russland das Parlament neu gewählt. Präsident Putins Regierungspartei hat in den letzten Jahren an Rückhalt verloren, aber die Hürden für oppositionelle KandidatInnen sind hoch. Ein Augenschein beim Wahlkampf des Lokalaktivisten Michail Lobanow in Moskau.
Knapp dreissig Personen haben sich an diesem heissen Juliabend auf einem Spielplatz im Ramenki-Distrikt versammelt, westlich vom Moskauer Stadtzentrum, einige Häuserzeilen von den berühmten Mosfilm-Studios entfernt. Eine lokale BürgerInneninitiative mobilisiert gegen einen Gebäudekomplex mit 38 Stockwerken, der in dem beschaulichen grünen Quartier hochgezogen werden soll.
Den aktiven Part übernehmen einige wenige Frauen mittleren Alters und eine aufgebrachte 75-jährige Rentnerin. «Die Baustelle liegt fünf Meter von meinem Fenster entfernt, und nie wieder wird die Sonne in meine Wohnung scheinen», empört sich diese. Kürzlich war sie bei einer Gerichtsverhandlung zugegen. Seit der Coronapandemie laufen öffentliche Anhörungen in Moskau über ein Onlineportal namens «Aktive Bürger», wobei sich herausstellte, dass in der Abstimmungsliste zum umstrittenen Neubau kein einziger Name einer in Moskau ansässigen Person verzeichnet ist. Ein Fake also. Vierzig AnwohnerInnen hatten dagegen eine Klage eingereicht, die vor Gericht aber abgeschmettert wurde. Die BürgerInneninitiative jedoch denkt nicht daran, aufzugeben.
Der unbequeme Kandidat
Ab und an finden sich neue Gesichter auf dem Spielplatz ein, andere gehen wieder. Sie alle sind über Whatsapp-Gruppen miteinander vernetzt und einer Einladung von Michail Lobanow gefolgt. Seit langem engagiert sich der 37-jährige Gewerkschafter in lokalen Initiativen wie dieser. Und nun will er seine politische Arbeit aufs nächste Level heben: Er tritt bei den russischen Parlamentswahlen an, die vom 17. bis 19. September stattfinden.
Von den 450 Sitzen in der Duma – 343 davon sind derzeit in den Händen der Regierungspartei Einiges Russland – wird die eine Hälfte über Parteilisten vergeben, die andere per Direktmandat aus den Einzelwahlkreisen. Lobanow verfügt zwar über viel Erfahrung in sozialen Kämpfen, besitzt aber kein Parteibuch. Also versucht er, ein Direktmandat zu erlangen. Für KandidatInnen wie ihn gibt es zwei Möglichkeiten für eine Zulassung zur Wahl: Die eine ist es, Unterschriften zu sammeln, was aber immense Ressourcen erfordert und bloss minimale Erfolgschancen bringt; einfacher ist es, im Namen einer registrierten Partei anzutreten. Diesen Weg hat Lobanow gewählt: Er lässt sich von der kommunistischen Partei KPRF aufstellen. Als Mathematiker und Dozent an der Lomonossow-Universität geniesst er die Unterstützung einiger bekannter WissenschaftskollegInnen, die der KPRF angehören.
Michail Lobanow ist der Partei dankbar dafür, dass sie ihn, den unbequemen Lokalaktivisten, antreten lässt. Parteiintern seien viele der Ansicht gewesen, dass seine Kandidatur die Präsidialadministration oder den Staatsschutz auf den Plan rufen könnte. «Die KPRF hat es mir versprochen – trotz Risiken – und ihr Versprechen gehalten, womit sie sich vorteilhaft von der Jabloko-Partei unterscheidet», sagt Lobanow. Ein Seitenhieb gegen die liberale Oppositionspartei, die viele AspirantInnen an der Nase herumgeführt und ihnen letztlich abgesagt hat.
In Moskau befinden sich 15 der insgesamt 225 Wahlkreise, und sie haben sehr unterschiedliche Bevölkerungsstrukturen und damit Erfolgsaussichten für oppositionelle KandidatInnen. Etliche von ihnen wurden gar nicht erst zur Wahl zugelassen, wie etwa der Liberale Ilja Jaschin: Ein Gericht bescheinigte ihm Nähe zu Alexei Nawalny, weil er auf seinem Telegram-Kanal angeblich zur Unterstützung von dessen als extremistisch eingestuftem Antikorruptionsfonds aufgerufen habe. Ein Screenshot diente als Beweis. Nur: Jaschin nutzt Telegram gar nicht. Auch das: ein Fake.
Prominente Konkurrenz
Seinen Wahlkreis 197 im tendenziell wohlhabenderen Westen der Stadt kennt Michail Lobanow in- und auswendig. Hier wohnt und arbeitet er, hier ist er mit vielen Gleichgesinnten vernetzt. Seine Vision weist indes über einen eigenen Parlamentssitz hinaus: «Wir wollen die Duma-Wahlen nutzen, um unsere Aktivitäten als Bewegung auf ein neues Niveau zu hieven und neue Leute zu gewinnen.» Im Klartext heisst das: die finanziellen Mittel und den Status, den ein Abgeordnetenmandat mit sich bringt, für die Weiterentwicklung der bestehenden Stadtteilstrukturen einsetzen. «Als Mindestziel wollen wir hier ein Zentrum errichten, das die Selbstverwaltungsstrukturen im Westen Moskaus unterstützt und die Gewerkschaftsbewegung voranbringt», führt er aus. Im Optimalfall werde später eine Ausweitung des Prinzips auf ganz Russland folgen.
Zunächst muss er den Parlamentssitz seines Wahlkreises, der sich aktuell in den Händen von Einiges Russland befindet, aber erst noch gewinnen. Damit nach den drei Wahltagen zumindest die Auszählung der Stimmen korrekt verläuft, braucht es geschulte Ehrenamtliche. Darum kümmert sich die KPRF. Traditionell stehen dafür in Moskau, anders als in vielen anderen Regionen, ausreichend Kräfte zur Verfügung. Fair geht es trotzdem nicht zu. Von der Wachstumspartei über die stalinistische Partei Kommunisten Russland bis hin zum Kreml-Projekt «Neue Menschen» wird eine Vielzahl von Splitterkandidaturen für die gezielte Desorientierung der Wahlberechtigten sorgen. Mittlerweile ist der offizielle Registrationsprozess abgeschlossen, und neben Michail Lobanow haben vierzehn weitere KandidatInnen die Zulassung im Wahlkreis 197 erhalten. Das sind ungewöhnlich viele.
Auch ernsthafte Kandidaturen sind darunter: die von Kirill Gontscharow von Jabloko etwa und natürlich jene der anderen derzeit in der Duma vertretenen Parteien. Prominent ist aber vor allem einer: Für die Regierungspartei mit ihren sinkenden Umfragewerten tritt Jewgeni Popow an, Moderator im Ersten Kanal, Russlands wichtigstem Fernsehsender. Zusammen mit seiner Frau und Arbeitskollegin Olga Skabejewa zählt er zu den bestbezahlten Profis in seiner Berufssparte. Popows Wahlkampagne erhält Unterstützung von der lokalen Verwaltung und Gelder aus der Parteikasse, seine Wahlkampfzeitungen erscheinen in hohen Auflagen und werden von bezahlten HelferInnen verteilt – während der grössten Sommerhitze oft mit einer Wasserflasche als Geschenk dazu.
Lobanow hingegen ist hauptsächlich auf Spendengelder angewiesen, die bislang nur einen Bruchteil der anfallenden Kosten für Wahlkampfmaterial decken, geschweige denn die Honorare seines Wahlstabs. Umso wichtiger sind lokalpolitische Anlässe wie jener gegen den Neubau im Ramenki-Distrikt. Umgekehrt profitiert auch die BürgerInneninitiative von seiner Kandidatur: Unter den geltenden Covid-Beschränkungen sind politische Versammlungen derzeit eigentlich nicht erlaubt – mit Ausnahme von Wahlkampfveranstaltungen. Nun planen die GegnerInnen des Bauprojekts für den 8. September eine Kundgebung, um im Stadtteil über die juristisch fragwürdigen Hintergründe des Bauvorhabens zu informieren. «Mir als Duma-Kandidat kann das niemand verbieten», sagt Lobanow bei der Zusammenkunft auf dem Spielplatz.
Klar, dass sich Lobanow mit seiner KPRF-Kandidatur nicht nur beliebt macht. Seine Ehefrau Alexandra Sapolskaja erzählt von einer Begegnung, die sie hatte, als sie an Hauseingängen Zettel mit Einladungen für eine von Lobanow organisierte Umweltexkursion befestigte. Ein Mann sei an sie herangetreten, der sich als ehrenamtlicher Berater der Bezirksverwaltung vorstellte. Er habe gesagt, dass er gerne an der Exkursion teilnehmen werde – sofern dort nicht über eine umstrittene Uferbefestigung des durch den Park fliessenden Bachs hergezogen werde. «Wahrscheinlich schleppen Sie auch noch diesen Genossen Lobanow an», habe er gesagt. Dieser sei ihr Mann, habe Sapolskaja erwidert, und zur Antwort erhalten: «Sie sind mit einem Schuft verheiratet!»
Mit dem nötigen Optimismus
Wer sich für Lobanows Wahlkampf engagiert, braucht starke Nerven. Anfang Juli findet das erste grosse Treffen mit Leuten statt, die Interesse daran haben. Mangels eigener Räumlichkeiten findet es in einem Park statt, etwa vierzig Personen sind gekommen, es hätten mehr sein dürfen. Dmitri Morosow, ein junger Sozialist aus Ischewsk, moderiert die Veranstaltung. Seine Rolle erfüllt er mit Enthusiasmus. Ein weiterer Aktivist notiert sich die Namen derjenigen, die sich für diverse anstehende Aufgaben zur Verfügung stellen. Und dann beginnt der heiklere Teil: Lobanow stellt sich den Fragen aus dem Publikum. Was würde er tun, wenn ihn die KPRF dazu zwänge, sich öffentlich zur Verstaatlichung von Privateigentum zu äussern? Als erfahrener Dozent strahlt Lobanow Sachlichkeit und Gelassenheit aus – und er kann zuhören. Er spüre keinen Druck aus der Partei, erklärt er, und er sei nicht grundsätzlich gegen Verstaatlichungen, nur komme es auf die Art und Weise an.
Dass es die KPRF ist, die Lobanows Kandidatur ermöglicht, könnte ihn, dessen sind sich alle im UnterstützerInnenkreis bewusst, durchaus Stimmen notorischer AntikommunistInnen kosten. Die Partei, die sich selbst als Nachfolgerin der sowjetischen Staatspartei KPdSU versteht, hat in Moskau nicht den besten Ruf. Sie gilt als alt und starr. Gleichzeitig bietet sie aber grosse Strukturen, in denen manche linke PolitikerInnen durchaus gute Arbeit machen. Das will auch Michail Lobanow für sich nutzen. «Die Voraussetzungen für eine Bewegung von unten sind da», sagt er. Er ist Optimist. «Wir schaffen das, aber wir müssen uns dafür anstrengen.» Zwei Monate bleiben noch bis zum erhofften Sitzgewinn.