Opposition im Exil: Das Fell des Bären wird schon verteilt

Nr. 36 –

Die liberale russische Opposition im Exil versucht, sich als Ansprechpartnerin für den Westen zu etablieren. Dabei grenzt sie linke Putin-Gegner:innen aus und zeigt Verständnis für bewaffnete Rechtsradikale. Wer die Vorherrschaft in der Exilopposition übernehmen wird, ist derzeit unklar.

Der Name der Veranstaltung war programmatisch: «The Day After». Anfang Juni fand in Brüssel im Gebäude des EU-Parlaments ein Treffen der russischen Exilopposition mit Abgeordneten der konservativen, liberalen, grünen und sozialdemokratischen Fraktionen statt. Es sollte um Russland nach Putin gehen.

Die Teilnehmer:innen besprachen Entschädigungszahlungen an die Ukraine, den Umgang mit der Kriegsverantwortung sowie anstehende Reformen in Russland selbst. «Wir befinden uns in einem Legitimationsprozess», sagte die Politologin Jekaterina Schulmann, einer der populärsten Köpfe der liberalen Opposition, zur Versammlung. Das sind ziemlich neue Töne – denn zuvor hatte Schulmann befunden, dass es den oppositionellen Strukturen im Exil an Legitimität mangle, weil sie nicht durch Wahlen begründet seien.

Der Exoligarch Michail Chodorkowski, einer der bekanntesten Teilnehmer:innen in Brüssel, lobte das Treffen als «Zusammenkunft der gesamten russischen Opposition». «Faktisch alle demokratischen Bewegungen, die im Ausland oder in Russland wirken, sind gekommen und führen einen sehr konstruktiven Dialog: sowohl untereinander als auch mit den europäischen Parlamentariern, die die europäische öffentliche Meinung und Zivilgesellschaft repräsentieren», sagte er auf seiner Onlineplattform «Khodorkovsky.Live».

Der Grund für Chodorkowskis Euphorie: Im Gegensatz zu früheren, von den Exilant:innen organisierten Treffen fungierten diesmal die EU-Abgeordneten als Gastgeber:innen – das stiftete den Eindruck einer Begegnung auf Augenhöhe.

Vor Ort oder im Exil

Allerdings ist die Behauptung, die ganze Opposition sei in Brüssel repräsentiert gewesen, nicht richtig: Fast alle Anwesenden verorten sich politisch im liberalen bis liberalkonservativen Milieu. Die einzige bei der Konferenz anwesende Kraft, die sich als links bezeichnen lässt, war die Gruppe Feministischer Antikriegswiderstand (FAS). Die feministische Aktivistin Karinna Moskalenko, immerhin Chodorkowskis ehemalige Anwältin, sorgte kurz für einen Eklat, als sie das mangelnde Interesse an einer ausbalancierten Gender- und Generationenzusammensetzung kritisierte.

Das Treffen zeigte auch, dass die russischen Oppositionellen nicht nur in unterschiedliche politische Lager gespalten sind. Nicht minder relevant ist die Teilung in solche, die in Russland geblieben sind und Strukturen vor Ort am Funktionieren halten, und jenen, die im Exil leben. An der Zusammenkunft in Brüssel klaffte eine grosse Lücke im liberalen Lager, weil die Anhänger:innen des inhaftierten Alexei Nawalny die Einladung ausgeschlagen hatten. Einige von ihnen nahmen als Privatpersonen teil.

Die Nawalny-Unterstützer:innen vertreten die Linie, das Regime könne nur in Russland selbst effektiv bekämpft werden. Aus diesem Grund kehrte Nawalny selbst nach dem Giftanschlag ins Land zurück, wo er sogleich inhaftiert wurde. Diesen Sommer wurde er zu neunzehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Seine Stiftung zur Bekämpfung der Korruption (FBK) wird in Russland als «extremistische Organisation» eingestuft. Noch aber verfügt die FBK in einzelnen Regionen des Landes über funktionierende Strukturen.

Bei den meisten Führungsfiguren des Brüsseler Treffens handelt es sich um Mitglieder des bereits 2016 in Vilnius gegründeten Forum Free Russia. Ihr Leben im Exil begann meist lange vor Kriegsbeginn, ihre politischen Aktivitäten waren fast ausschliesslich publizistischer Natur. Zwar hat Chodorkowski über längere Zeit versucht, sein Netzwerk Offenes Russland aus dem Ausland heraus als eine Art Protopartei mit Regionalverbänden aufzubauen. In Konkurrenz zu Nawalnys Antikorruptionsstiftung hat er sich aber nicht durchsetzen können. Heute kann sich kein anderer liberaler Politiker mit Nawalnys Bekanntheit messen.

Schon die Vorgängerveranstaltung von «The Day After», ein Treffen in Berlin am 30. April, fand ohne Linke oder Nawalny-Anhänger:innen statt. Dafür waren mindestens zwei fragwürdige Personen anwesend: der ehemalige Hauptwirtschaftsberater der russischen Regierung, heutige Trump-Sympathisant und Klimawandelleugner Andrej Illarionow sowie die für ihre sozialdarwinistischen Äusserungen bekannte Journalistin Julia Latynina. Ein weiterer Dauergast an solchen Treffen ist der Milliardär Jewgeni Tschitschwarkin – wie Latynina ein überzeugter Anhänger der libertären Philosophie von Ayn Rand.

Die rechte Flanke

Veranstaltungen wie die in Brüssel oder Berlin dienen den Exiloppositionellen dazu, sich als Ansprechpartner:innen für die westliche Politik zu etablieren. Doch die Versuche ernten vermehrt Ablehnung aus verschiedenen Fraktionen von Putin-Gegner:innen. Denn in Russland selbst agieren weiterhin etliche linke und gewerkschaftliche Gruppen, die den Krieg gegen die Ukraine entschieden ablehnen. Ihre Arbeit wird von den Exilliberalen kaum erwähnt, dabei ist sie mit grossen Risiken verbunden. Das zeigte kürzlich die Festnahme des marxistischen Soziologen Boris Kagarlitzki, dem die Behörden aufgrund seiner Haltung «Terrorismusrechtfertigung» vorwerfen.

Nach dem Angriff auf das Nachbarland haben sich auch etliche Mitglieder der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) gegen den Prokriegskurs ihrer Führung um Gennadi Sjuganow gestellt. Einige wurden inzwischen aus der Partei ausgeschlossen, verfügen aber immer noch über Kontakte zu ihrer Wähler:innenschaft.

In der KPRF finden sich neben orthodox-leninistischen und sozialkonservativen auch sozialdemokratische Positionen. In Putins Regime ist sie zumindest formell noch immer die grösste Oppositionspartei, sowohl von den Mitglieds- als auch von den Mandatszahlen her. Diesem Umstand trägt Nawalny auf taktischer Ebene Rechnung, indem er seine Anhänger:innen zum «Smart Voting» für die aussichtsreiche Gegenkandidatur zur Putin-Partei Einiges Russland aufruft – was meist eine Person aus der KPRF ist. Bis heute halten manche ihrer Abgeordneten Kontakt zu sozialen Bewegungen und Kriegsgegner:innen. Für den Milliardär Tschitschwarkin hingegen ist jeder Sozialist «ein Bandit, weil er fremdes Eigentum nicht achtet».

Während die Exilant:innen, die sich als Stimmen des «demokratischen Russlands» gebärden, der linken Opposition mit Feindschaft begegnen oder sie ignorieren, sind viele von ihnen radikalen Rechten wesentlich zugewandter – zumindest, sofern diese gegen Putin sind: so etwa dem Russischen Freiwilligenkorps (RDK), einer von militanten Nationalisten gegründeten Einheit, die aufseiten der Ukraine kämpft. Das Korps ruft immer wieder Oppositionelle dazu auf, seinen Reihen beizutreten, unabhängig von deren politischen Positionen. In einem Punkt darf es allerdings keine Kompromisse geben: Als Kombattanten werden beim RDK nur ethnische Russen akzeptiert.

Auch beim Treffen in Brüssel zeigten Teilnehmer:innen wie der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow oder Anwalt Mark Fejgin Verständnis für eine Zusammenarbeit mit solchen Kräften. Selbst die Umweltaktivistin Jewgenija Tschirikowa betonte, dass die RDK-Kämpfer als Helden gelten müssten. Auch der einzige anwesende Vertreter der Ukraine, der ehemalige Selenski-Berater Oleksi Arestowitsch, rief die russische Opposition dazu auf, den «Kämpfern für die Freiheit Russlands» finanziell zu helfen.

Dass Teile der Opposition bei der Wahl ihrer Verbündeten nicht wählerisch sind, hat schliesslich Jewgeni Prigoschins «Marsch auf Moskau» im Juni gezeigt. Zwar dauerte dieser weniger als 24 Stunden – doch in der kurzen Zeit hat Chodorkowski dazu aufgerufen, den Kampf des Wagner-Chefs gegen Putin materiell zu unterstützen.

Wer die Vorherrschaft in der Exilopposition übernehmen wird, ist derzeit unklar. Eine gewichtige Rolle im Konkurrenzkampf spielt eine der umstrittensten Figuren der russischen Politik: Ilja Ponomarjow. In den nuller Jahren war er als Mitarbeiter von Chodorkowskis Jukos-Konzern und Mitglied der KPRF an den Verhandlungen zwischen Oligarchen und Kommunist:innen für ein mögliches Anti-Putin-Bündnis beteiligt. Er war zudem in militanten nationalistischen Gruppen aktiv, die teilweise gute Kontakte zum Kreml pflegten.

Im Jahr 2007 wurde Ponomarjow für die gemässigt linke Partei Gerechtes Russland – vom Kreml gegründet, um die KPRF zu schwächen – ins Parlament gewählt. Als Abgeordneter drängte er auf eine stärker oppositionelle Ausrichtung. 2014 stimmte er als einziger Parlamentarier gegen die Annexion der Krim und musste sich daraufhin schon bald einem Strafverfahren wegen angeblicher Finanzaffären durch eine Flucht in die Ukraine entziehen.

Im Konkurrenzkampf

Mit der Eskalation des Krieges erlebte der fast schon in Vergessenheit geratene Ponomarjow ein fulminantes Comeback: In Polen rief er einen «Kongress der Volksdeputierten» zusammen, der alle Oppositionellen umfassen sollte, die in Russland irgendwann einmal ein Mandat erlangt hatten – und sei es auch bloss in der Stadtteilversammlung. Einzelne der Wahlerfolge lagen zudem bereits über ein Jahrzehnt zurück. Ponomarjow pochte darauf, dass es sich bei seinem Kongress um ein Protoparlament handle, das – im Gegensatz zu Foren und Treffen – als Legislative fungieren könne. Da sich aber dort eher die zweite Garnitur der Opposition ohne echte Verbindung zu Parteien oder Organisationen in Russland traf, verpuffte der mediale Effekt.

Für wesentlich mehr medialen Wirbel sorgte vor einem Jahr Ponomarjows Behauptung, die Untergrundorganisation Nationale Republikanische Armee (NRA) – zu der er Kontakt pflege – sei für den Mordanschlag auf die Journalistin Darja Dugina verantwortlich, die Tochter des neurechten Philosophen Alexander Dugin. Gleichzeitig erklärte Ponomarjow, der Volksdeputiertenkongress verfüge über eine eigene Truppe – die Legion Freiheit Russlands, die seit März 2022 aufseiten der Ukraine kämpfe. Für die Existenz beider Gruppen gibt es neben diesen Aussagen allerdings keine weiteren Quellen.

Ponomarjow behauptet, er sei weiterhin links orientiert: Die Liberalen kritisiert er fürs «Nichtstun» und ihr «Geschwätz». Ihm stünden jene näher, die mit der Waffe in der Hand gegen das Regime kämpften. Beim Oppositionstreffen in Brüssel war einer der wenigen namentlich bekannten Vertrauten von Ponomarjow anwesend: Alexei Baranowski, früher bei den Pro-Kreml-Rechten aktiv, kritisierte im Namen der Legion die geäusserten Ideen als «zu unkonkret». Die Opposition ist also nicht nur doppelt gespalten – sondern auch uneinig.

Ewgeniy Kasakow ist promovierter Historiker und Herausgeber des Buches «Spezialoperation und Frieden. Die russische Linke gegen den Krieg» (Unrast-Verlag).