Opposition in Russland: Ein Kandidat gegen den Krieg

Nr. 33 –

Der Moskauer Gleb Babitsch will ins Stadtparlament. Von seinem Plan lässt sich der 24-jährige Linke auch durch die staatlichen Hürden nicht abbringen.

Gleb Babitsch umgeben von seinem Team
Steht für eine junge Generation, die von Russlands aggressivem Isolationskurs um ihre Zukunft gebracht wird: Gleb Babitsch (oben) umgeben von seinem Team.

Gleb Babitsch thront buchstäblich auf den Schultern seines Teams – eine äusserst untypische Pose für den 24-jährigen Moskauer Lokalpolitiker. Eigentlich kümmert er sich lieber um die Belange anderer, als sich hochleben zu lassen. Doch jetzt stehen ihm Freude und Erleichterung ins Gesicht geschrieben, schliesslich hat er gerade die erste Hürde im ungleichen Kampf mit den staatlichen Vorgaben für die Kandidatur fürs Stadtparlament der russischen Hauptstadt im September gemeistert.

Weil er keiner in der Staatsduma vertretenen Partei angehört, muss Babitsch als Voraussetzung für seine Zulassung mindestens 5133 in seinem Wahlkreis mit rund 170 000  Stimmberechtigten gesammelte Unterschriften vorlegen: ein echter Kraftakt. Nach einem wochenlangen Marathon und einer schlaflosen Nacht vor dem Abgabetermin reicht er schliesslich 5404 Signaturen ein – sorgfältig von seinem Wahlstab geprüft und ordentlich zusammengeheftet. Jetzt ist es an der zuständigen Behörde, deren Echtheit zu bestätigen.

«Tun Sie doch erst mal was!»

Ein paar Tage zuvor in einem Hochhausviertel des Bezirks Tjoplij Stan im Süden Moskaus. Hier haben sich am frühen Abend rund dreissig Anwohner:innen zur Diskussion mit Babitsch versammelt. Das Thema, das die Leute beschäftigt: fehlende Hundeauslaufplätze. Manche hören bloss zu, andere stellen Fragen. Babitsch beantwortet alle mit Engelsgeduld und fundierter Sachkenntnis.

«Tun Sie doch erst mal was!»: Die schrille, vorwurfsvolle Stimme gehört einer älteren Frau, die sich für das Hundethema nicht interessiert. «Wozu wollen Sie überhaupt ins Parlament?», fährt sie fort. Man kenne das doch, erst wollten solche Leute gewählt werden, dann verschwänden sie von der Bildfläche und bekämen als Abgeordnete auch noch einen Haufen Geld. Einige der Anwesenden versuchen, der Frau mit Argumenten zu begegnen: Babitsch habe auch ohne offizielles Mandat schon viel für den Stadtteil erreicht. Ihm sei es etwa zu verdanken, dass bald ein neues Zentrum für Gynäkologie eröffne, wo die Verwaltung das alte einfach geschlossen habe.

Tatsächlich engagiert sich Babitsch schon seit Jahren für lebenswerte Bedingungen in seinem Quartier. Immer wieder veranstaltete er Treffen mit der lokalen Bevölkerung, trieb Initiativen voran, etwa für Mülltrennung oder gegen Baumassnahmen in einem grossen Park. «Ich bin in einer linken Familie gross geworden», erzählt er. Als Teenager hätten ihm linke Ideen zwar imponiert, allerdings ohne dass er deren gesamte Dimension begriffen hätte. Erst als Student und dann in der Lokalpolitik habe er Ansichten entwickelt, die denen seiner Eltern nahekämen: Der studierte Biologe fährt umweltbewusst mit dem Velo; die Vorstellung, als verlängerter Arm des Staates zu agieren und damit ein Vermögen zu verdienen, weist er zurück.

Allein schon die Idee, als unabhängiger Kandidat bei Wahlen anzutreten, ruft in Russland heutzutage Kopfschütteln hervor – und das nicht nur bei überzeugten Politikabstinenzler:innen. Mit immer neuem innovativem Know-how wartet die Staatsmacht auf, um das gesamte Wahlprozedere zur Fiktion verkommen zu lassen. Für die anstehende Wahl zur Mosgorduma beispielsweise werden nur bei vorzeitiger Beantragung klassische Stimmzettel auf Papier bereitgestellt. Ansonsten hat die Abstimmung elektronisch zu erfolgen. Wahlbeobachtung? Bei diesem Verfahren nicht vorgesehen. Im Klartext bedeutet das: praktisch unbegrenzte Möglichkeiten zur Manipulation der Ergebnisse.

Glaubwürdigkeit als Trumpf

«In gewisser Weise betrachten wir die Wahlen gar nicht als Option, um ein Mandat zu erringen», gibt Babitsch zu. Dass seine Chancen gering ausfallen, weiss er – auch viele seiner Unterstützer:innen sind sich darüber im Klaren. Gute Gründe, sich trotzdem nicht geschlagen zu geben, gibt es dennoch. «Unsere Kampagne verschafft uns die Möglichkeit, viele Menschen zu erreichen und ihnen zu vermitteln, dass es in Russland eine politische Alternative zur Propaganda des Staates und zu dessen Kurs gibt», ist er überzeugt. Gleb Babitsch will zeigen, dass sich sogar im Jahr 2024 noch Politik auf Augenhöhe betreiben lässt. Dafür ist er auch bereit, Risiken einzugehen.

Auf X bezeichnet er sich unverhohlen als «Antikriegskandidat». Würde er die russische Kriegsführung in der Ukraine explizit thematisieren, machte er sich strafbar – sich offen zu positionieren, ist also gewagt. Unter dem Wahlslogan «Frieden, Gleichheit, Zukunft» fasst Babitsch zentrale Anliegen zusammen. «Ohne Frieden sind Bewegung und Entwicklung nicht vorstellbar», heisst es im Programm.

Zudem prangert er soziale Ungleichheit an – sowohl global als auch in Moskau, wo jene, die es sich leisten können, ihren Reichtum genüsslich zelebrieren. Babitsch fordert eine inklusive Stadtplanung, Unterstützung für Menschen in schwierigen Lebenslagen, eine Aufwertung der lokalen Selbstverwaltung und mehr politische Teilhabe für die Bevölkerung. Und er fordert realen politischen Einfluss.

Das klingt ambitioniert und scheint so gar nicht dem aktuellen Trend zu entsprechen, da sich die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Russland doch bewusst von der Politik fernhält. Aber eben nicht alle. Anders als bei vergangenen Moskauer Wahlen, wo wesentlich mehr Kandidat:innen angetreten waren, brachten beim aktuellen Durchlauf höchstens zwei Dutzend im weitesten Sinne oppositionelle Lokalpolitiker:innen die Kraft für eine eigene Kampagne auf.

Gleb Babitsch kann nicht auf die Ressourcen einer Parteistruktur zurückgreifen. Was ihn hingegen auszeichnet, sind seine Glaubwürdigkeit und die Kommunikation auf Augenhöhe. Ein weiterer Trumpf ist der Enthusiasmus seiner rund 150 Wahlhelfer:innen. Viele von ihnen hatten 2021 schon den Wahlkampf von Michail Lobanow für einen Sitz in der Duma unterstützt.

An der Wahlurne gewann der gewerkschaftsnahe Linke damals zwar, beim gleichzeitig angewandten elektronischen Stimmverfahren unterlag er hingegen. Auf das politische Engagement folgten Hausdurchsuchungen und Verhöre, schliesslich flüchtete Lobanow ins Ausland. Babitsch steht nun für eine junge Generation, die von Russlands aggressivem Isolationskurs um ihre Zukunft gebracht wird. Das Durchschnittsalter in seinem Team dürfte bei Anfang zwanzig liegen.

Unterschriften für ungültig erklärt

Für den neunzehnjährigen Grischa etwa, der seinen Nachnamen lieber nicht nennen will, steht fest: Jeder verbliebene legale Raum für politische Aktivitäten müsse genutzt werden. Er gehört einer Gruppe junger Leute an, die sich in einem Debattierklub regelmässig mit aktuellen Themen befassen. Das Sammeln von Unterschriften für Babitsch bot ihm nun die Gelegenheit, auf der Strasse und an Wohnungstüren mit gewöhnlichen Bürger:innen zu diskutieren. Auch über Babitschs Antikriegshaltung.

Genau bei diesem Punkt – und beim Thema Migration – würden sich die Geister scheiden, sagt Grischa. Im Voraus sei die politische Haltung aber nicht zu erkennen. «Am Äusseren einer Person lässt sich das jedenfalls nicht festmachen», resümiert er im Rückblick auf vier Wochen Agitation auf der Strasse. Grischa hat Absagen kassiert, sah sich mit Ignoranz und Gleichgültigkeit konfrontiert, aber er hat auch Zuspruch von Menschen erhalten, denen Babitschs Wahlprogramm gefiel.

Freitags, wenn das russische Justizministerium jeweils seine Liste «ausländischer Agenten» auffrischt, hofft Babitsch jedes Mal aufs Neue, verschont zu bleiben. Sollte sein Name darin auftauchen, darf er bei keiner Wahl mehr antreten. Die Wahlkommission indes hat die für ihn gesammelten Unterschriften inzwischen für ungültig erklärt – weil ein Teil für handschriftliche Dokumente typische, die Lesbarkeit nicht beeinträchtigende Striche oder andere Besonderheiten aufwies. Gegen diese offensichtlich politisch motivierten Widerstände ist Babitsch vor Gericht gezogen – bisher ohne Erfolg. Die Antwort auf eine Berufungsklage steht allerdings noch aus.

Für so manche Bewohner:in von Tjoplij Stan bleibt Babitsch so oder so der Kandidat der Zukunft – ob mit realpolitischen Erfolgen oder ohne. «Mach weiter so», wünscht ihm eine Hundehalterin bei der Versammlung im Stadtviertel, «du bist unser Hoffnungsträger.»