Mystik: Zeitloses Denken der Weisen aus dem Mittelalter
Um Afghanistan wirklich zu verstehen, würde eine Auseinandersetzung mit dem Sufismus helfen. Die Gesellschaft des Landes ist seit Jahrhunderten von diesem spirituellen Islam geprägt, der dazu beitragen könnte, die Machtkämpfe im Land zu überwinden.
«Leider können die meisten in unserem Land die Botschaft von Rumi weder begreifen noch verdauen», sagte Haidari Wodschudi an einem eisigen Vormittag im Januar 2020 zu seinen SchülerInnen und blickte durch die staubige Fensterscheibe auf den Verkehr der afghanischen Hauptstadt. Der damals Achtzigjährige unterrichtete an zwei Tagen pro Woche im Obergeschoss der Kabuler Stadtbibliothek und rezitierte aus den Gedichten des persischen Mystikers Rumi.
In seinen Sufivorlesungen erklärte Wodschudi, wie der Mensch die Grenzen des eigenen Egos überwinden könne und dabei lerne, in Frieden mit sich selbst und der Welt zu leben. Seine ZuhörerInnen stammten aus allen Gesellschaftsschichten. Gefragt, in welche Richtung sich sein kriegsgebeuteltes Land bewege, konstatierte er in resigniertem Ton: «Amerika, Pakistan und Russland wissen, was passieren wird.»
Der Gelehrte erlebte die zweite Machtübernahme der Taliban, die ihn bei der ersten in den neunziger Jahren für einige Jahre ins pakistanische Exil getrieben hatten, nicht mehr: Wodschudi verstarb im Juni 2020 an Covid-19. Er war einer der wenigen noch lebenden afghanischen Meister, die vor Beginn der Kriege Ende der siebziger Jahre in den Sufizirkeln des Landes geschult worden waren. Sufis sind MuslimInnen mit einer nach innen gewandten spirituellen Einstellung; sie üben die religiösen Gebote aus, um Gott näher zu kommen und ohne sie anderen aufzuerlegen. Als landesweit verehrter Weiser und Dichter sah Wodschudi seine Berufung darin, einer Handvoll SchülerInnen Inspiration und Trost zu schenken und das Erbe der Sufis, so gut es ging, am Leben zu erhalten.
Nächstenliebe und Sanftheit
Afghanistan ist die Geburtsstätte grosser mittelalterlicher Mystiker wie der Dichter Abdullah al-Ansari, Hakim Sanai, Dschalaluddin Rumi und Abdulrahman Dschami. Die Feingeistigkeit der afghanischen Mystiker, die, lange bevor sich europäische Staaten zu Menschenrechten bekannten, Moral und Ethik, menschliche Werte und Charakterschulung lehrten, überlebte ein ganzes Jahrtausend. In ihren Ausdrucksformen der Literatur, Musik, Kalligrafie und Architektur macht diese Mystik einen Grossteil von dem aus, was man heute als das afghanische Kulturerbe bezeichnet.
Afghanistans tiefe Verbindung mit dem Sufismus reicht bis in die Gegenwart: Noch heute blickt ein Grossteil der afghanischen MuslimInnen durch die Brille des Sufismus auf den Islam – auch wenn sie keinem der formalen Sufiorden angehören, wie sie sich im Mittelalter in vielen islamischen Ländern herausbildeten. Kernwerte des Sufismus wie Gottesliebe, Bescheidenheit und Grosszügigkeit sind im afghanischen Brauchtum so fest verankert wie in kaum einer anderen Kultur. Sufigedichte sind weiterhin ein Bestandteil der oralen Tradition; der von den meisten Menschen gelebte Islam ist – entgegen dem kriegerischen Image – oft ein von Nächstenliebe und Sanftheit erfüllter Islam.
Manche Sufis am Hindukusch nahmen politische Rollen ein; in Verteidigungskriegen wie dem Guerillakampf gegen die Sowjetunion griffen einige auch zu den Waffen. Angehörige der Nakschbandija, eines Ordens mit Wurzeln in Usbekistan, berieten traditionell die Machthaber des Landes. Der Tradition nach wurden afghanische Könige im Beisein eines grossen Sufimeisters gekrönt. Als der Reformkönig Amanullah Chan in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinem Land eine radikale Modernisierung überstülpen wollte, trugen Sufiführer, die ihre Traditionen bedroht sahen, zu seinem Sturz bei. Nach dem Einmarsch der Sowjettruppen in Afghanistan im Jahr 1979 zählten zwei Sufierben, Ahmed Gailani und Sibghatullah Modschaddedi – das damalige Oberhaupt der Nakschbandija – zu den wichtigsten Anführern der Guerillakrieger. Modschaddedi wurde 1992 nach der Einnahme Kabuls durch die Mudschaheddin für ein paar Monate Interimspräsident des Landes.
Armut und Kriegsnot
Die langen Kriegsjahre haben den mystischen Islam am Hindukusch geschwächt: Im Krieg gegen die Sowjets konnte durch den vom Ausland gesponserten Dschihadismus erstmals ein breitflächiger Fundamentalismus im Land Fuss fassen. Aus arabischen Ländern eingereiste Kämpfer predigten einen puritanischen Islam, wie er seit dem späten 19. Jahrhundert als Reaktion auf den westlichen Imperialismus durch die islamische Welt geistert. Viele junge Männer wurden radikalisiert und vom mystischen Erbe ihrer Vorväter abgeschnitten. An dessen Stelle trat eine politisierte und kriegerischere Religion, die durch ihre simplifizierende Auslegung wenig Raum für mystische Gedanken lässt. Die Armut und die Kriegsnot der vergangenen zwanzig Jahre haben ihr Übriges getan, sodass heute nur noch eine Minderheit der Bevölkerung zum Kulturerbe der Sufis überhaupt Zugang hat. Dabei könnte die Mystik der Sufis helfen, die tiefgreifenden ethnischen Spaltungen und Machtkämpfe im Land zu überwinden: Sie geht davon aus, dass alle Menschen – unabhängig von Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht oder Religion – einen göttlichen Funken in sich tragen, der ihnen Würde verleiht.
Viele Talibanideologen sind dem Sufismus gegenüber nicht per se feindlich eingestellt. In der Vergangenheit haben sie Sufis nur im Rahmen ihrer politischen Strategie im Kampf gegen den Westen angegriffen – vor allem in Pakistan. So zum Beispiel, nachdem die pakistanische Regierung nach 9/11 Sufigremien zur Extremismusbekämpfung geschaffen oder die US-Botschaft in Islamabad die Renovierung von Sufischreinen mitfinanziert hatte. Daher ist wohl auch jetzt keine systematische Verfolgung der Sufis in Afghanistan zu erwarten. Das angsteinflössende Klima unter dem sogenannten Emirat der Taliban dürfte AfghanInnen mit einer Sufigesinnung jedoch weiter von ihrem Erbe entfremden – tolerante Glaubenspraktiken werden noch mehr dem Talibanfundamentalismus zum Opfer fallen.
Kein Interesse des Westens
Manche politischen AnalystInnen forderten bereits in der Vergangenheit, dass den Sufis am Hindukusch eine Rolle als Friedensvermittler zukommen solle. Die westlichen Politikerinnen und Analysten zeigten in den letzten zwanzig Jahren jedoch kaum Interesse an den tieferen Wurzeln der afghanischen Kultur. Dabei hätte etwa eine Beschäftigung mit dem Sufismus zu einem wirklichen Verständnis des Landes und seiner BewohnerInnen führen können – und damit zu einem Austausch auf Augenhöhe. Grund für diese Ignoranz ist auch unser Zeitgeist: In einer Welt, die allein von Realpolitik und wirtschaftlichen Interessen dominiert wird, fehlt die Sensibilität für das zeitlose Denken der Sufis, wie es in den mystischen Traditionen aller Religionen angelegt ist.
Stattdessen tappt man hierzulande immer noch in die Falle, den Islam in Afghanistan vor allem mit dem Narrativ der Taliban zu beschreiben. Etwa wenn die Ideologie der Taliban, wie kürzlich in der deutschen «Tagesschau», als «strikte Auslegung des Islam» bezeichnet wird. Mit solchen Formulierungen wird suggeriert, dass die Taliban – auch wenn sie mit der afghanischen Kultur des Islam, wie sie über Jahrhunderte praktiziert wurde, nichts zu tun haben – legitime Repräsentanten des Islam seien. Oder wie Omid Safi, Professor für Islamwissenschaften an der Duke-Universität in North Carolina, kürzlich auf Facebook schrieb: «Die Taliban in Afghanistan sind kein Fall von islamischem Extremismus. Dies impliziert, dass sie ‹extrem› islamisch oder muslimisch sind. […] Nennen Sie es, wie es ist: ‹Die Taliban sind frauenfeindlich und brutal.›»