Krieg in Afghanistan: Auf der Suche nach neuen Helden

Nr. 38 –

Unter den Kriegen der letzten Jahrzehnte hat das ländliche Afghanistan viel mehr gelitten als die urbane Bevölkerung. Nun schürt der Abbruch der Friedensverhandlungen Angst vor einer neuen Eskalation der Gewalt. Ein Besuch in der Provinz.

So nah von Kabul und doch so fern: In Mussahi herrschen die Taliban, die Sicherheitskräfte haben Angst und patrouillieren nur oberflächlich.

«Hier gibt es leider nicht viel. Das sieht man ja, oder?», sagt Hadschi Junus. Er steht vor einer kleinen Moschee in Mussahi, dem Hauptort des gleichnamigen Distrikts nahe der afghanischen Hauptstadt Kabul. Um ihn herum haben sich Kinder aus dem Dorf versammelt. Junus verteilt Schokolade und Kekse. Dann erzählt er vom Krieg: «Schon in den Achtzigern waren hier die Mudschaheddin. Trotz der Nähe zu Kabul-Stadt hatte nicht das kommunistische Regime das Sagen, sondern die Rebellen.»

In gewisser Weise hat sich daran nicht viel geändert. Mussahi, rund dreissig Minuten vom Präsidentenpalast entfernt, wird nicht von der Regierung, sondern von den Taliban kontrolliert. Es ist der am nächsten zur Hauptstadt gelegene Distrikt, der sich in den Händen der Extremisten befindet.

Bewaffnet zeigen sich die Kämpfer oftmals nur nach Einbruch der Dunkelheit. Tagsüber sieht man im Dorf viele junge Männer und stellt sich die Frage, wer von ihnen ein Talib sein könnte. Die Frage ist allerdings schwer zu beantworten: In Afghanistans ländlichen Regionen herrscht der klassische Guerillakrieg. Die meisten Talibankämpfer sind keine Fremden, sondern stammen aus lokalen Stammesstrukturen.

Oftmals findet man auch zerstrittene Familien vor, in denen die eine Hälfte die Regierung unterstützt und die andere die Aufständischen. «Ich weiss nicht, warum oft der Eindruck erweckt wird, die Taliban seien ausländische Kämpfer. Hier gibt es Brüder, die sich bekämpfen. Der eine ist Soldat, der andere bei den Taliban. Wir töten uns gegenseitig, und das ist traurig», meint Kader Baraki. Wie viele Paschtunen hat der junge Mann aus dem Dorf ein markantes Gesicht, ist gross, vollbärtig und trägt afghanische Pluderhosen. Woanders würde er womöglich als Armani-Model durchgehen.

Verarmt und unsicher

Wie in vielen anderen Teilen des Landes sind auch in Mussahi Parallelstrukturen entstanden, die die Präsenz der Taliban deutlich machen. So gibt es einerseits das offizielle Gericht der Regierung und andererseits jenes der Taliban. Die DorfbewohnerInnen wenden sich in den meisten Fällen an Letzteres. «Die Taliban kümmern sich besser um die Probleme der Menschen vor Ort. Das hat ihnen hier Sympathie verschafft», meint Muhammad Schahin, der selbst aus dem Distrikt stammt.

Zurzeit studiert er in Kabul, doch seine ländliche Heimat besucht er regelmässig. Die Entwicklungen in Mussahi beobachtet er schon lange mit Sorge. «Es gibt keinen Politiker, der im Parlament ernsthaft für die Menschen einsteht.» Hinzu komme, dass die Sicherheitskräfte der Regierung regelmässig Zivilisten belästigten und auch angriffen. «Es ist offensichtlich, dass ein solcher Zustand von den Taliban ausgenutzt wird», so Schahin.

Trotz der Nähe zur Hauptstadt gilt Mussahi als verarmt und unsicher. Die meisten Menschen aus Kabul wagen es kaum, den Distrikt aufzusuchen. Selbst die Sicherheitskräfte haben Angst und patrouillieren nur oberflächlich. «Sie wissen, dass sie hier nichts verloren haben. Man sieht sofort, dass sie so schnell wie möglich wegwollen», sagt Aimal Popalsai, während einige Soldaten der afghanischen Armee eine nahe gelegene Moschee verlassen. Popalsai ist Regierungsbeamter und lebt schon lange in Kabul. Doch auch er hat Mussahi, wo seine Vorväter begraben liegen, nicht vergessen. «Seit Jahrzehnten sind die Menschen hier von Krieg und Armut betroffen. Es gibt keinen Moment der Ruhe, doch das könnte sich nun aufgrund der jüngsten Friedensverhandlungen endlich ändern», sagt er.

Die Verhandlungen, von denen Popalsai und viele andere im Dorf sprechen, sind die Gespräche zwischen den Taliban und der US-Regierung, die monatelang dauerten und vor wenigen Tagen von Donald Trump via Twitter abgebrochen wurden. Als Grund nannte der US-Präsident die fortwährende Gewaltbereitschaft der Taliban. Für viele BeobachterInnen kam dies überraschend, immerhin nahmen zeitgleich auch die Bombardements des US-Militärs zu. Die Friedensgespräche hatten unter vielen AfghanInnen Hoffnungen geweckt, auch in Mussahi. «Ich hoffe sehr, dass Frieden in unser Land einkehrt. Dann werden sich viele Probleme von selbst oder zumindest sehr viel einfacher lösen», meint Bauer Muhammad Asif.

2018 fielen Tausende US-Bomben

Wer mit den Menschen in Mussahi spricht, stellt fest, dass das ländliche Afghanistan sehr viel mehr unter den Kriegen der letzten Jahrzehnte gelitten hat als die urbane Bevölkerung. Der «klassische Krieg» findet im vermeintlich sicheren Land, in das mehrere EU-Staaten und die Schweiz weiterhin Geflüchtete ausschaffen, auf dem Land statt: Luftangriffe, Militäroperationen und bewaffnete Aufständische gehören zum Alltag. Regelmässig werden dabei auch ZivilistInnen getötet: Laut dem aktuellen Bericht der Uno-Mission starben allein zwischen Januar und Juni mindestens 1366 Personen, 2446 weitere wurden verletzt. Die meisten Opfer gingen nicht auf das Konto von Taliban oder IS, sondern auf jenes regierungstreuer Truppen. Dazu gehören das US-Militär und die Nato-Truppen, die afghanische Armee sowie afghanische CIA-Milizen.

Überraschend ist diese Entwicklung nicht. 2018 warf das US-Militär über 7300 Bomben über Afghanistan ab – so viele wurden noch nie gezählt. Und 2017 detonierte die grösste nichtnukleare US-Bombe – euphemistisch «Mutter aller Bomben» (MOAB) genannt – in der ostafghanischen Provinz Nangarhar. Gleichzeitig nahm auch die Anzahl nächtlicher Razzien zu, die oftmals in einem Blutbad enden. Seit Donald Trump die Macht im Weissen Haus übernahm, hat die Gewalt in Afghanistan massiv zugenommen.

«Was abseits von Kabul passiert, interessiert niemanden. Auch viele Menschen in der Hauptstadt leben in einer Blase», sagt Waheed Mozhdah. Der politische Analyst aus Kabul betont, dass sich innerhalb der urbanen Gesellschaft eine Gleichgültigkeit entwickelt habe, die Hass und Extremismus mitschüre. «Hier gibt es bunte Fernsehshows, Coffeeshops und schicke Restaurants. In den Dörfern gibt es weder Strom noch fliessendes Wasser», sagt er. Ein Anschlag in Kabul werde tausendfach verurteilt. Es gebe Solidaritätskampagnen und demonstrierende PolitikerInnen. Luftangriffe, die ganze Dörfer zerstörten, würden hingegen kaum beachtet.

Doch auch die afghanische Hauptstadt gehört weiterhin zu den gefährlichsten Regionen des Landes. Regelmässig wird sie von Attentaten und Selbstmordanschlägen heimgesucht: Jüngst griffen IS-Extremisten etwa eine Hochzeit an und töteten über achtzig Menschen. Wenige Tage später feierte die Kabuler Regierung das Hundert-Jahr-Jubiläum der afghanischen Unabhängigkeit.

Düstere Aussichten

Vor hundert Jahren war der Dritte Anglo-Afghanische Krieg zu Ende gegangen, den der afghanische König Amanullah Khan für sich hatte entscheiden können. Die BritInnen hatten daraufhin die Grenzen des afghanischen Staates gezogen, und das Land war für neutral und unabhängig erklärt worden. Auch die pompösen Feierlichkeiten im neu renovierten Dar-ul-Aman-Palast, der unter Amanullah von deutschen Architekten errichtet worden war, machten den Kontrast zwischen der Kabuler Politelite und der Bevölkerung deutlich. Der aktuelle Präsident Aschraf Ghani, ein Technokrat, der – wie er selbst behauptet – das Werk Amanullahs vollenden möchte, gab den starken Führer und sprach von Unabhängigkeit, Souveränität und einer glorreichen Zukunft. Für die Mehrheit, die unter Krieg und Armut leidet, klingt das mehr als surreal. Dennoch möchte Ghani Ende September wiedergewählt werden. Sein Team hat sich für ihn einen einprägsamen Titel ausgesucht: Staatserbauer.

Wohl nicht zu Unrecht meinen manche, dass sich der Präsident – ähnlich wie einst König Amanullah – von der eigenen Bevölkerung entfremde. Amanullah ist unter den AfghanInnen ebenfalls nicht unumstritten. 1929 – zehn Jahre nachdem die BritInnen verjagt waren – wurde er von der Bevölkerung gestürzt. Die konservative Gesellschaft hielt seine modernistische und säkulare Einstellung sowie seine westlich geprägten Ansichten nicht lange aus. Dennoch gilt der König heute als Nationalheld. Und nicht wenige AfghanInnen meinen, dass eine solche politische Figur gegenwärtig fehle.

«Jemand wie König Amanullah könnte das heutige Afghanistan womöglich versöhnen», sagt Muhammad Nasim, der in Kabul seinen Lebensabend verbringt. «Afghanistan wird von ausländischen Mächten und Ideologien missbraucht und fungiert lediglich als Schachbrett geopolitischer Spiele.» Der greise Mann studierte einst in Europa, schloss sich in den achtziger Jahren den Mudschaheddin an und bekämpfte die Russen. Später lehrte er unter anderem als Rechtsprofessor in Kabul. Heute blickt er nostalgisch in die Vergangenheit. «Es gab in Afghanistan Helden, die das Land einen konnten. Doch es gab auch viele machtsüchtige Tyrannen. Die Auswirkungen ihrer kurzsichtigen Politik spüren wir bis heute», so Nasim. Sein Blick in die Zukunft ist dennoch optimistisch: «Jede Ära hat ihre Helden», sagt er.

So optimistisch sind nicht alle. «Ich verlasse Afghanistan. Meine ganze Familie ist schon geflüchtet. Sie sorgt sich um mich», sagt Bhagat Singh, der zur Minderheit der Sikh gehört. Zurzeit verkauft er noch auf Kabuls grossem Markt Tee, Safran und Trockenfrüchte. In den letzten Jahren haben die meisten Sikhs Afghanistan verlassen. Der Auszug nahm vor allem nach dem Juli 2018 abermals zu. Damals wurde Avtar Singh Khalsa, der für die Minderheit fürs Parlament kandidieren wollte, zusammen mit neunzehn weiteren Sikhs durch einen IS-Anschlag in der östlichen Stadt Dschalalabad getötet. «Einst waren wir Zehntausende Sikhfamilien im Land, inzwischen gibt es nur noch einige Dutzend», so Singh, der sich weiterhin als stolzer Afghane betrachtet. Die Zukunft seiner Heimat sieht er allerdings düster.

Vor den Wahlen: Einfluss und Macht für die Eliten

Insgesamt haben neun Gesprächsrunden zwischen den USA und den Taliban in Katar stattgefunden. Zalmay Khalilzad, der US-Chefunterhändler mit afghanischen Wurzeln, zeigte sich stets optimistisch. Selbiges galt auch für die Talibandelegation. Im Fokus der Gespräche standen ein Waffenstillstand, der Abzug der US-Truppen und eine politische Beteiligung der Taliban. Hinzu kam ein sogenannter intra-afghanischer Dialog, der die verschiedenen Akteure zusammenbringen sollte. Viele BeobachterInnen und die Beteiligten hatten die Erwartung, dass der Deal Anfang September abgesegnet sein würde – doch dann kam Trumps Twitter-Rage.

Kurz nach der Absage des Deals wurde John Bolton, Trumps nationaler Sicherheitsberater, entlassen. Dass dies auch mit Afghanistan zu tun hat, ist für viele mehr als nur offensichtlich. Trumps Tweet endete mit einer Frage: «Wie lange wollen sie [die Taliban] noch kämpfen?» Die Antwort ist im Grunde genommen sehr einfach: länger als die US-Soldaten, die – so wie alle, die kamen – Afghanistan irgendwann verlassen müssen. Zurzeit ist unklar, ob die Gespräche fortgeführt werden. Wahrscheinlich scheint eine Gewalteskalation.

Unklar ist zudem auch, ob die Präsidentschaftswahlen am 28. September überhaupt stattfinden werden. Durch den Abbruch der Friedensgespräche wird das immer unwahrscheinlicher. Es sind vor allem die politischen Eliten Kabuls, die von Trumps Entscheidung profitieren und sich dadurch Macht und Einfluss sichern können. Neben dem aktuellen Präsidenten Aschraf Ghani gibt es kaum aussichtsreiche Kandidaten.

Emran Feroz