Afghanistan: Warum die Taliban ein Buch meines Onkels verboten haben

Nr. 51 –

Die islamistischen Taliban greifen in Afghanistan zu neuen Repressalien. Ihr Kampf richtet sich neu auch gegen Bücher – darunter der Insiderbericht, den der Onkel unseres Autors über das erste Taliban-Regime schrieb.

Als die Taliban im August 2021 nach Kabul zurückgekehrt waren, hegten einige Beobachter naive Hoffnungen. Sie dachten, dass sich die alten Extremisten zum Positiven gewandelt hätten. Immerhin hatten viele von ihnen Zeit im Ausland verbracht – in Katar, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, im Iran oder in Pakistan –, und die junge Generation schien kriegsmüde und interessierte sich im neuen Kabuler Alltag plötzlich für Bücher oder Englischkurse. Selbst die Reden des Taliban-Sprechers Sabihullah Mudschahed klangen für manche rational und vernünftig. Heute ist klar: Das alles war eine Farce, mit der Zeit brachen die Verbots- und Repressionswellen über die Afghan:innen herein.

Die Neuauflage des Taliban-Emirats ist ein Land der Verbote. Musik? Darf nicht gespielt werden. Eine machtkritische Medienberichterstattung? Praktisch unmöglich. Mädchen und Frauen, die studieren oder in bestimmten Bereichen arbeiten? Undenkbar – laut Human Rights Watch haben die Taliban jetzt Frauen auch jegliche medizinische Ausbildung verboten. All das kam nicht plötzlich, sondern geschah kontinuierlich, während die Weltöffentlichkeit in die Ukraine oder in den Nahen Osten blickte.

Im Inneren des Apparats

Vor wenigen Wochen verkündeten die Taliban einen neuen Krieg: Er richtet sich gegen Bücher. Ein Index aus dem Kultusministerium der Taliban, der in Teilen der WOZ vorliegt, macht deutlich, wie gross das Ausmass der Bücherverbote ist. Betroffen sind die Bücher mehrerer Hundert Autor:innen, das Themenspektrum ist breit. Betroffen sind nicht nur Bücher über Liberalismus, Minderheitenrechte, Demokratie oder Frauenrechte, sondern auch theologische Werke sowie politische Sachbücher, die dem Weltbild der Taliban nicht entsprechen. Eines davon hat mein Onkel verfasst, der 2019 ermordete Publizist und politische Analyst Wahid Mozhdah. In «Afghanistan unter der fünfjährigen Taliban-Herrschaft» beschrieb er die Ära des ersten Taliban-Regimes in den neunziger Jahren – mein Onkel wusste, worüber er schrieb, denn er war praktisch ein Insider. Jemand, der im Inneren des Machtapparats arbeiten musste.

Portraitfoto von Wahid Mozhdah
Wahid Mozhdah

Als die Taliban 1995 zum ersten Mal die Macht an sich rissen, lebte mein Onkel im vom Bürgerkrieg zerstörten Kabul. Er war damals für das Aussenministerium der Mudschaheddin-Rebellen tätig, die drei Jahre zuvor die letzte kommunistische Diktatur im Land gestürzt hatten und sich anschliessend gegenseitig bekriegten. In den Jahren zuvor hatte Mozhdah im Exil in Pakistan und im Iran gelebt, wie Millionen Afghan:innen, die vor der bis 1989 dauernden sowjetischen Besatzung geflohen waren. Während seiner Odyssee wurde mein Onkel erstmals publizistisch tätig. Im pakistanischen Peschawar, wo die Rebellengruppierungen residierten, traf er viele unterschiedliche Persönlichkeiten, darunter nationalistische Dichter, liberale Intellektuelle, Islamistenführer oder auch den damals noch unbekannten Usama Bin Laden. Er verschlang Bücher, lernte Englisch und gab westlichen Reportern Interviews.

«Für dich ist hier kein Platz mehr»

Letzteres pflegte er später auch in unserem Haus in Kabul zu tun – bis zu seiner Ermordung. Für viele Menschen war er eine Art Afghanistanerklärer. Als die Taliban später alle Ministerien übernahmen und viele Beamte das Weite suchten, blieb mein Onkel an seinem Schreibtisch in seinem Büro. Er wollte nicht wieder seine Heimat verlassen. «Gut, dann arbeitest du von nun an für uns», erklärten ihm die Taliban mit vorgehaltener Kalaschnikow.

Bis zum Sturz der Taliban durch die USA und ihre Verbündeten im Oktober 2001 konnte Wahid Mozhdah zahlreiche Eindrücke über das Innenleben des Regimes sammeln – Dinge, die auch viele Afghan:innen über die Extremisten nicht wussten. Etwa, wie unterschiedlich die Anschauungen innerhalb der Taliban waren: Einer wollte Mädchenschulen, der andere wiederum nicht; einer meinte, die Buddhastatuen sprengen zu müssen, während der andere sie als Kulturgut betrachtete. Meinem Onkel war jedoch klar, dass sich die Bewegung im Kern nie ändern würde. Umso wichtiger waren ihm Frieden und Stabilität in Afghanistan.

Als die Verbündeten der USA ins Kabuler Aussenministerium spazierten, war es abermals Mozhdah, der blieb. «Für dich ist hier kein Platz mehr», beschied ihm daraufhin Abdullah Abdullah, der 2014 Aussenminister unter Hamid Karsai wurde. Mein Onkel packte seine Sachen und verliess das Ministerium.

Dissident in Kabul

In den folgenden Jahren wurde er zu einem intellektuellen Dissidenten. Er forderte ein Ende des Krieges und kritisierte dabei die Nato und ihre afghanischen Verbündeten. Unter ihnen befanden sich viele Akteure, die vom endlosen Krieg am Hindukusch und dem damit verbundenen militärisch-industriellen Komplex in den USA profitierten – etwa bekannte Warlords oder zahlreiche korrupte Politiker, die sich an den milliardenschweren Hilfsgeldern des Westens bedienten, Villen bauten oder in Saus und Braus in Dubai lebten.

Für seine Haltung wurde mein Onkel bewundert, aber sie trug ihm auch Feinde ein. Am 20. November 2019, nach dem Abendgebet, wurde er im Westen Kabuls vor unserer Haustür ermordet. Zu seiner Beerdigung erschienen mehrere Tausend Menschen, darunter Exkommunisten, ehemalige Mudschaheddin-Führer, liberale Universitätsprofessoren, Regierungsmitglieder, Expräsident Hamid Karsai, der sich trotz seiner zahlreichen Korruptionsverwicklungen stets um die Meinungsfreiheit im Land bemühte, sowie einstige Taliban, die sich von der Gruppierung entfernt hatten und in Kabul lebten. Hinzu kamen Menschen aus allen Ethnien, Schichten und Konfessionen. Wer meinen Onkel nicht kannte, hätte nicht sagen können, wem er angehörte. Tatsächlich wurde er als jemand betrachtet, der sich für die Einheit im Land einsetzte und gegen Sektierertum und Ethnonationalismus stellte.

Wer die Geschichte kontrolliert

Was von ihm blieb, waren seine Bücher und Schriften, darunter auch ein Werk über die iranisch-afghanischen Beziehungen sowie ein Poesieband. Sein Buch über die Taliban wurde zum Standardwerk unter Afghanistankenner:innen. Dass die Taliban es nun verbieten, bestätigt abermals seine Theorien und Prognosen. In diesem Fall bedeutet das nicht nur, dass die Extremisten sich tatsächlich in keiner Weise geändert haben, sondern auch, dass sie noch radikaler und systematischer mit Repressalien und Verboten vorgehen. Sie wollen ganz im orwellschen Sinn ihre Geschichte neu schreiben und jegliches Narrativ über sie und ihre Ideologie kontrollieren. Dissens und abweichende Meinungen werden nicht im geringsten Mass geduldet.

Dies sollte auch ein Warnruf für jene sein, die weiterhin versuchen, das Regime in Kabul zu relativieren, und es sogar in Erwägung ziehen, die Beziehungen mit ihm zu normalisieren. Die lange Liste der von den Taliban verbotenen Bücher macht deutlich, dass sich in diesem «Emirat», das für viele Menschen bereits zu einem Freiluftgefängnis geworden ist, so bald nichts ändern wird.