Der Fall Lina E.: Wie man sich eine neue RAF bastelt

Nr. 35 –

Nächste Woche beginnt in Dresden der Prozess gegen eine angebliche «Linksterroristin». Ein Blick auf die Vorwürfe gegen Lina E. weckt grosse Zweifel am Vorgehen der Behörden. Will die Bundesanwaltschaft ein Exempel statuieren?

Mediale Inszenierung durch die Behörden: Als Lina E. nach ihrer Verhaftung nach Karlsruhe geflogen wird, steht dort schon ein Fotograf bereit. Foto: Roland Wittek, Keystone

Die öffentliche Meinung ist schnell gemacht. Kaum ist Lina E. verhaftet, tauchen schon die ersten Skandalschlagzeilen auf. Das Springer-Blatt «Bild» schreibt von der «Chef-Chaotin im Minirock». Sexistische Männerfantasien, in Text gegossen. Der Berliner «Tagesspiegel» zieht umgehend Vergleiche zur Rote-Armee-Fraktion. Den Gipfel der Absurdität erklimmt später «Focus Online»: Unter dem Titel «Frauenknast extrem» stellt das Portal die «Gewalt-Linke» E. der NSU-Rechtsterroristin und verurteilten Mehrfachmörderin Beate Zschäpe gegenüber, die im gleichen Gefängnis sitzt. Bürgerliche Medien im Rausch. Was ist geschehen?

Am 5.  November 2020 durchsuchen sächsische Ermittler in Leipzig mehrere Wohnungen und nehmen Lina E. fest. Gleich am nächsten Tag wird E. im Polizeihelikopter nach Karlsruhe geflogen und am Bundesgericht dem Haftrichter vorgeführt. Behördenarbeit als Grossevent. Als die junge Frau in Handschellen aus dem Hubschrauber steigt, warten nicht bloss Polizisten in Sturmhauben auf sie, sondern gleich auch noch ein Agenturfotograf. Er liefert die Bilder, die später dazu dienen werden, die Erzählung von der gefährlichen Extremistin zu untermauern.

Anklage nach Schnüffelparagraf

Ende Mai hat die Bundesanwaltschaft gegen E. und drei weitere Beschuldigte Anklage erhoben. Am kommenden Mittwoch beginnt vor der Staatsschutzkammer des Dresdner Oberlandesgerichts der Prozess – unter riesigem Sicherheitsaufgebot, weil der Verfassungsschutz Ausschreitungen befürchtet. Für Medien stehen im Gerichtssaal nur wenige Plätze zur Verfügung, aus dem Ausland zugelassen sind bloss «Russia Today» und das Deutschlandbüro der NZZ. Die Behörden werfen den vier Angeklagten die «Mitgliedschaft in einer linksextremistischen kriminellen Vereinigung» sowie Delikte wie Körperverletzung, Landfriedensbruch oder Diebstahl vor.

Der Anklage zugrunde liegt der Paragraf 129 über die «Bildung einer kriminellen Vereinigung», der sonst eher die Mafia oder Rockerbanden betrifft. Der Straftatbestand erlaubt den Behörden auch bei geringfügigem Anfangsverdacht weitreichende Überwachungsmassnahmen, weshalb er auch «Schnüffelparagraf» genannt wird.

Seit ihrer medienwirksamen Verhaftung sitzt Lina E. in der Justizvollzugsanstalt Chemnitz in Untersuchungshaft – als Einzige der Beschuldigten. In ihrer üppigen Anklageschrift zeichnet die Bundesanwaltschaft das Bild einer gefährlichen Straftäterin: Spätestens im Sommer 2018 habe sich E. einer in und um Leipzig gegründeten, aber «auch überregional vernetzten» rund zehnköpfigen Gruppe mit «militanter linksextremer Ideologie» angeschlossen. Diese lehne den demokratischen Rechtsstaat und das staatliche Gewaltmonopol ab. Die Taten der Gruppe bewegten sich «im Grenzbereich zum Terrorismus», betonen die Ermittlungsbehörden immer wieder. Ihre Erkenntnisse basieren auf monatelangen Observationen, abgehörten Gesprächen und überwachten Konten.

Konkret geht es um mehrere Attacken in Sachsen und Thüringen in den vergangenen Jahren. Im Herbst 2018 soll E. in Wurzen einen Rechtsextremen ausgespäht haben, der danach von mehreren Personen verprügelt worden sei. Später sei sie an einem Angriff auf eine Person in Leipzig-Connewitz beteiligt gewesen, indem sie «unbeteiligte Anwesende mit einem Reizstoffsprühgerät davon abhielt, dem Geschädigten zu helfen».

Im Oktober 2019 soll die Gruppe um E. dann den Neonazitreffpunkt «Bull’s Eye» in Eisenach angegriffen, den Besitzer und mehrere Gäste «zum Teil erheblich verletzt» und die Einrichtung zerstört haben. Den Kneipenbesitzer, einen bekannten Rechtsextremen, habe die Gruppe später noch einmal vor dessen Wohnung attackiert. Gemäss den Behörden habe E. «die Aktion kommandiert».

Des Weiteren wird den Beschuldigten eine Attacke auf Neonazis in Wurzen zur Last gelegt, die gerade auf dem Rückweg von einem Szenetreffen anlässlich des Jahrestags der Bombardierung Dresdens waren. Später habe die Gruppe auch in Leipzig einen Übergriff geplant. Weil die Polizei E. festgenommen habe, sei es nicht mehr dazu gekommen. Nach wenigen Tagen wurde die Studentin allerdings auf freien Fuss gesetzt – bis dann die erneute Verhaftung erfolgte, diesmal durch die Bundesanwaltschaft.

«Antifaschistin by heart»

Erkan Zünbül ist einer der beiden Verteidiger von Lina E. Zu den einzelnen Vorwürfen will er sich im Gespräch nicht konkret äussern. Im Mai hatten die Anwälte in einer Mitteilung geschrieben, die Anklageschrift sei «mit heisser Nadel gestrickt». Die Verteidigung stehe der Beweisführung kritisch gegenüber, konstatiert Zünbül nun gegenüber der WOZ.

Das Bild, das ihr Umfeld von ihr zeichnet, ist nämlich alles andere als das einer brutalen Schlägerin. E. sei «ein lebensfroher Mensch, ein witziges Mädchen», erzählt eine Freundin der «Zeit», die den Fall akribisch aufgearbeitet hat. Typ «Antifaschistin by heart». Gegenüber der Demokratie sei sie nicht kritisch eingestellt, auch den Staat wolle sie nicht abschaffen. «Ihr Denken ist nicht radikal.» E., die ursprünglich aus Kassel stammt, studiert bis zu ihrer Verhaftung in Leipzig Erziehungswissenschaften, schliesst alle Kurse mit Bestnote ab und will in die Sozialarbeit, in der Freizeit geht sie gern klettern, Vorstrafen hat sie keine. Zwischen Bachelor und Master betreut sie Kinder in einer stationären Einrichtung.

Für die Behörden ist dennoch klar: Bei den «intensiv vorbereiteten» Angriffen habe E. eine «herausgehobene Stellung» eingenommen. Die junge Frau als angeblicher Kopf einer autonomen Terrorbande, gestützt auf Paragraf  129 über «kriminelle Vereinigungen»? Bei näherem Hinsehen werfen die vagen Aussagen der Bundesanwaltschaft zur Führungsrolle von E. Fragen auf. «Wir haben vor allem grosse Zweifel an der Konstruktion der kriminellen Vereinigung», sagt Verteidiger Zünbül. Fragwürdig sei ausserdem, dass die Bundesanwaltschaft, die üblicherweise bloss bei staatsgefährdenden Delikten ermittle, den Fall an sich gezogen hat.

Juliane Nagel, die für die Linkspartei im sächsischen Landtag sitzt, hegt ebenfalls Zweifel an der Darstellung der Behörden. «Ich habe den Eindruck, dass der Fall ziemlich hochstilisiert wurde.» Anlässlich der Inszenierung könnte man meinen, bei der Gruppe um E. handle es sich um eine neue RAF. «Es scheint zudem sehr weit hergeholt, dass E. die Rädelsführerin ist», so die Leipziger Politikerin.

Zünbül wie Nagel kritisieren auch die mediale Inszenierung des Falls Lina E. Die Art und Weise, wie Informationen aus internen Ermittlungen immer wieder an die Presse gelangt seien, habe ihn sehr erschreckt, sagt der Anwalt. «Wir vermuten, dass die Behörden das gezielt gemacht haben, um die Stimmung zu verschärfen.» Zünbül sieht in diesem Vorgehen denn auch einen «massiven Eingriff» in die Rechte seiner Mandantin, eine Vorverurteilung, die die Verteidigung erschwere. Nagel berichtet, wie sie selbst bei einer der Hausdurchsuchungen, in deren Zusammenhang Lina E. verhaftet wurde, vor Ort war – und dass die Info darüber erst in einer Ermittlungsakte und dann in einem «Welt»-Artikel auftauchte. «Endlich haben die Behörden eine linksextreme Gruppe mit Namen und Gesichtern präsentieren können, also wollten sie auch die Erzählung darüber beeinflussen.»

Tatsächlich ist die Anklage gegen Lina E. und die anderen Beschuldigten nicht ohne einen breiteren politischen Kontext zu verstehen. Ende 2019 gründete die sächsische CDU-Regierung zur Bekämpfung von «Linksextremismus» die «Sonderkommission Linx». Allein im ersten Halbjahr 2020 eröffnete diese Polizeieinheit 335 Ermittlungsverfahren, wie aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei hervorgeht. Die meisten davon verliefen aus Mangel an Beweisen im Sand, in einigen Fällen wurde das Vorgehen später für rechtswidrig erklärt.

Kriminalisierung linker Strukturen

Zum Vergleich: Die «Soko Rex», die gegen die extreme Rechte vorgehen soll, eröffnete in der gleichen Zeit bloss 20 Verfahren. «Seit Jahren erleben wir einen sehr starken Ermittlungsdruck nach links, derjenige nach rechts scheint deutlich kleiner zu sein», sagt Linkspartei-Politikerin Juliane Nagel. Dass die Gefahr, die in Deutschland von der radikalen Rechten ausgeht, ungleich höher ist, zeigt ein weiterer Blick in die Statistik: Laut Schätzungen sind allein seit der Wende rund 200 Menschen von Rechtsextremen ermordet worden. Auch Teile des Sicherheitsapparats sind für ihre rechten Umtriebe bekannt.

Der Chef der «Soko Linx» macht derweil keinen Hehl daraus, wo er seine Prioritäten sieht. «Die Verhaftung von Lina E. war nicht das Ende unseres Kampfes gegen linke Gewalt, sondern erst der Anfang», verkündete Dirk Münster nach der Festnahme der Studentin martialisch. «Wir werden in aller Konsequenz gegen die Szene vorgehen.» UnterstützerInnen von Lina E. glauben, dass die «Soko Linx» und die Bundesanwaltschaft ein Exempel statuieren wollen, weil ihre Arbeit bisher nicht sonderlich erfolgreich war. Das erscheint angesichts solcher Aussagen alles andere als abwegig.

Das Solidaritätsbündnis Antifa Ost, das sich zur Prozessbeobachtung gegründet hat, formuliert es in einer Mitteilung von dieser Woche so: «Der gesamte Prozess sowie die Ermittlungen des LKA Sachsen sind unseres Erachtens klar politisch motiviert.» Dabei würden die Beschuldigten stellvertretend für die antifaschistische Bewegung belangt. Politikerin Nagel befürchtet ebenfalls die «Kriminalisierung linker Strukturen», weil der Prozess den Behörden nicht zuletzt auch dazu dienen würde, die Szene auszuleuchten. Die UnterstützerInnen jedenfalls sind gut auf die anstehende Verhandlung vorbereitet. Für die kommenden Wochen sind diverse Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen angekündigt.