Von oben herab: Zukunft Schweiz

Nr. 39 –

Stefan Gärtner über die nächsten vierzig Jahre

Man schimpfe bitte nicht aufs lineare Fernsehen, denn da, beim sogenannten Zappen, warten immerhin noch Überraschungen, und sei es nur «Bohemian Rhapsody», das Biopic um Queen und Freddy Mercury, deren legendärer Auftritt beim Londoner «Band Aid»-Konzert noch meine «one vision» war, bevor bei mir der Hammer fiel. Am nächsten Tag dann meine einzige Queen-Platte aus dem CD-Regal gekramt, «Best of», und mir bei «Who Wants to Live Forever» das Rückenrieseln abgeholt, das sich bei der wiedergefundenen Zeit sowieso immer einstellt und bei solch universal anwendbaren Klagen wie der, dass wir keine Chance haben und alles für uns schon entschieden ist, auch einstellen darf, jedenfalls bei so primitiv-empfindsamen Popseelchen wie mir.

Überhaupt schön, dass ich nicht unsterblich bin, und schön, dass ich der im Jahr 2061 ganz und gar verlotterten, objektiv tödlichen, halb calvinistischen, halb nationalsozialistischen Schweiz keine Kolumne mehr hinterherschreiben muss, falls ich nicht so alt werde wie meine Grossmütter, was natürlich sein kann. Noch einmal vierzig Jahre WOZ, das wären tausend Gärtner-Kolumnen, und das kommt mir gar nicht so viel vor. Irgendwas los ist in der «Schwiiz» (Ruedi Widmer) schliesslich immer, und die Korrespondentin meiner deutschen Morgenzeitung meldete neulich, Helvetien rücke immer mehr nach rechts, was mich sofort an einen DDR-Witz erinnerte, der in meinem einschlägigen Lieblingsbuch «Leben in der DDR» (Hamburg 1977) kolportiert wird und den ich, wie das halbe Buch, auswendig kenne: Was ist die DDR im Jahr 2000? Eine kleine zänkische Provinz an der Westgrenze Chinas.

Um die Schweiz im Jahr 2061 muss man sich trotzdem keine Sorgen machen. Es wird nämlich schön warm sein, die Strassen sind so voll wie immer, und Christoph Blocher ist irgendwo, wo selbst er keinen Schaden mehr anrichten kann. Falls ihm die Feuer nicht zu lasch und die Kessel nicht zu klein sind, und überhaupt die ganzen roten und (sehr) warmen Brüder da unten! Vielleicht gewinnt Roger Federer noch einmal Wimbledon, das jetzt im März stattfindet, weil ab April der Rasen verbrennt. Rechnen darf man auch mit einer Volksinitiative zur Frage, ob Klimaschutz ein Anschlag auf die helvetische Freiheit ist, zu tun und zu lassen, was immer man will (tun: SUV fahren, lassen: die wahren Kosten des Wohlstands bezahlen). Mit der EU, die 2061 natürlich noch besteht, obwohl Polen und Ungarn möglicherweise bald mit ernsthaften Sanktionen rechnen müssen, hat die Schweiz längst ein neues Abkommen: Sie muss kein bisschen ihrer nationalen Souveränität aufgeben, dafür darf sie sich zu jenem Teufel scheren, dem Blocher seit Jahren auf die Nerven fällt.

Vor vierzig Jahren telefonierten die Menschen noch mit grauen Einheitstelefonen, die sie bei der Post mieten mussten, heute gibt es rund 100 000 Handymodelle, in die sich Textnachrichten hineinsprechen lassen. 2061 ist das wahrscheinlich so retro wie die 64 Megapixel, mit denen die Schwiegermutter, die jetzt auch einmal ein Smartphone wollte, bald Handyfotos machen kann, was erlaubt, einen Schnappschuss ohne Qualitätsverlust auf die Grösse des Kantons Zürich zu vergrössern. In vierzig Jahren werden es sicher noch einmal sehr viel mehr Megapixel sein, die, nachdem es sich ausgepixelt hat, noch immer Kinder auf afrikanischen Müllkippen ernähren. Prognosen sind ja stets heikel, aber da bin ich mir einigermassen sicher.

Das neue Album von Sarah Connor heisst übrigens, teilt mir die Postwurfsendung vom Elektromarkt mit, «Herz Kraft Werke», und es wird schwer werden, diesen Albumtitel in den nächsten vier Jahrzehnten zu unterbieten. Der Elektromarkt hat auch Beatrice Egli im Angebot: «Alles was du willst», und das wäre in meinem Fall: beizeiten meine Ruhe.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»).

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich: www.woz.ch/shop/buecher.