Von oben herab : Neutral betrachtet

Nr. 31 –

Stefan Gärtner über logische Verstrickungen

Neulich steckte ein befreundetes Paar in Schwierigkeiten – Schwierigkeiten von der Sorte, wie man sie hat, wenn man seit zwanzig Jahren verheiratet ist. Zuerst ruft er mich an, dann ruft sie mich an, und die Sache war (für mich) gottlob leicht, weil man Reisende nicht aufhalten soll. Circa das sagte ich auch, beiden, und konnte also hübsch neutral bleiben, auch wenn es Neutralität letztlich gar nicht gibt.

In der Wissenschaft glauben nur noch ein paar Unentwegte, dass objektive, neutrale Wissenschaft möglich sei. Die communis opinio lautet, dass, langt man wo hinein, es mit der Neutralität bereits vorbei ist, dass schon die Forschungsfrage und ihre Formulierung die Sache so beeinflussen wie der Fuss, mit dem der Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin morgens aufgestanden ist. Die Beobachtung verfälscht das Beobachtete, und damit ist zu leben.

Die ewige und heilige Neutralität der Schweiz bedeutet Bündnisfreiheit. Sie bedeutet nicht, dass die Schweiz nicht ihre natürlichen Alliierten hätte oder sich aus allem heraushalten könnte. Das geht nämlich gar nicht; dazu müsste sie autark sein und an Geschäften nicht interessiert. Als Putin in die Ukraine marschierte, hatte die Schweiz zwei Möglichkeiten: sich den EU-Sanktionen anzuschliessen oder «neutral» zu bleiben, was faktisch bedeutet hätte, auf russischer Seite zu stehen, so wie die «neutrale» Schweiz im Zweiten Weltkrieg brav nach Deutschland und Italien exportierte, auch Waffen und Munition, und es streng genommen auch musste, weil sie ja «neutral» war. «Sanktionen wie gegen Russland wären nicht mehr möglich, indirekte Waffendeals mit der Ukraine auch nicht», beschreibt der «Blick» Christoph Blochers «Neutralitäts-Initiative», von der also allein Russland profitieren würde. Nein? Blocher: «Die Erfahrung zeigt: Sanktionen bringen nichts. Bis jetzt nützen sie vor allem Russland. Die Gas- und Ölpreise sowie der Rubel sind gestiegen. Russland verdient viel Geld.» Also bedeutet Neutralität, Russland zu schaden, was wiederum nicht neutral ist. Aber vielleicht bedeutet Neutralität ja, der Schweiz nicht zu schaden: «Unsere Neutralität verhindert, dass die Schweiz in einen Krieg hineingezogen wird. Das darf man nicht preisgeben.» In dem Krieg steckt sie aber schon, wenn sie Russland schadet, indem sie nicht an den Sanktionen teilnimmt, und ob es nun ironisch wäre, wenn die Schweiz von Putin ins Paläolithikum gebombt würde, weil sie Sanktionen gegen Russland eben verweigert, ist eine harte Nuss für die Politikwissenschaft.

«Länder», sagt Blocher, «haben bekanntlich keine Freunde, sondern Interessen», und wo er recht hat, hat sogar der einmal recht. Interessen gebieten es, flexibel zu bleiben, weshalb in der Schweiz neuerdings von einer «flexiblen Neutralität» die Rede ist, und das ist ein Widerspruch in sich. Neutralität gibt es als flexible nicht, sondern nur als totale, aber als totale, s. o., gibt es sie halt ebenso wenig. Wenn es sie doch gibt, dann als, wir wiederholen uns, Bündnisfreiheit, die in gewisser Weise das Gegenteil von Neutralität ist, weil es Bündnisfreiheit nur als flexible oder gar nicht gibt. (Dass ich die Magisterprüfung in Politischer Wissenschaft einst nur mit Ach und Krach bestanden habe, kann man das glauben?)

An die neunzig Prozent der Schweizer Bevölkerung stehen hinter der Neutralität, schreibt der «Blick», «und die Classe politique missachtet sie», schimpft Blocher. Die Classe politique weiss aber auch, wie viel Energie es kostet, dass im Juli Äpfel im Regal liegen können, während die Bevölkerung in den Supermarkt geht und Äpfel kauft. Die meisten Dinge sind viel schwieriger, als die Leute wissen wollen, aber vielleicht ist das auch nur mein deutscher Neid auf die helvetische Direktdemokratie. Die doch von Mal zu Mal entscheiden könnte, wie neutral die Schweiz sich vorkommen will.

«Neutralität gibt es letztlich gar nicht.»

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

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