Geldpolitik: Wenn Ökonom:innen im Nebel stochern

Nr. 46 –

Das Schreckgespenst der Inflation ist zurück. Die Debatte über die zu ergreifenden Massnahmen wird von alten Glaubenssätzen und falschen Annahmen dominiert. Dabei steht viel auf dem Spiel.

Die Wirtschaftsressorts der Zeitungsredaktionen werden derzeit von der Inflationsangst beherrscht. Es drohe eine «schleichende» (NZZ), «kalte» (FAZ) oder «heimliche» («Wirtschaftswoche») Enteignung, unken liberale Stimmen und fordern von der Europäischen Zentralbank (EZB), die Geldschleusen zu schliessen. Sie gehen davon aus, dass eine steigende Geldmenge die Inflation weiter anheizt. Linke halten dagegen: Sie warnen eindringlich vor einer restriktiven Geldpolitik, da diese die Spielräume für staatliche Massnahmen einschränken und die wirtschaftliche Erholung abklemmen würde.

Es lässt sich kaum bestreiten: Die Inflationsraten im Euroraum sind zurzeit hoch, das Geld verliert in der Folge an Kaufkraft. In der ersten Phase der Coronapandemie brach die Wirtschaft ein, die Lieferketten gerieten ins Stocken. Während die Staaten immense Rettungspakete sprachen, versorgten die Zentralbanken die Märkte mit gigantischen Summen. Die Inflation hat nun erst einmal angezogen. Überschattet wird die unübersichtliche Situation von der Klimakrise und dem Konflikt zwischen den USA und China. Aber hält dieser Trend an?

Eine schlüssige Antwort auf diese Frage hat niemand; Ökonom:innen stochern im Nebel. Deshalb zeigen sich in den Auseinandersetzungen politische Interessen und ideologische Bezugssysteme besonders deutlich. Der liberale Thinktank Avenir Suisse etwa fragt besorgt, was wäre, wenn die Inflation ausser Kontrolle geriete. Der umtriebige Ökonom Reiner Eichenberger nutzt die Gunst der Stunde und fordert tiefere Kapitalsteuern. Das wirkt in der Schweiz weltabgewandt: Der Franken ist in der zweiten Novemberwoche fast unbemerkt auf ein Hoch geklettert, während die Inflationsrate bei gerade einmal 1,2 Prozent lag.

Anders sieht es im Euroraum aus: Dort liegt die Inflation bei über 4 Prozent. Der deutsche FDP-Vorsitzende Christian Lindner, der gute Chancen auf den einflussreichen Posten des Finanzministers hat, nannte die Inflation im «Spiegel» ein «Verarmungsprogramm», weil Erspartes dadurch an Wert verliert. Der Hardliner will einen Kurswechsel der EZB. Eine restriktive Geldpolitik aber würde nicht nur die Erholung der Wirtschaft bedrohen, sondern besonders die ärmeren Staaten im Süden unter Druck setzen. Das wiederum würde den zentrifugalen politischen Kräften Auftrieb geben, die sich aus dem EU-Korsett befreien wollen. Das wirkliche Verarmungsprogramm während der Eurokrise ab 2010 dürfte sich dort ins Gedächtnis eingebrannt haben.

Jahrzehntelang kein Problem

Es steht also viel auf dem Spiel. Da ist es besonders fragwürdig, auf welchen Grundlagen debattiert wird. «Die Wirtschaftsforschung und die reelle ökonomische Entwicklung haben sich weitgehend entkoppelt», sagt Daniel Lampart. Der Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) sah sich jüngst veranlasst, darauf hinzuweisen, dass die Teuerung in Europa nicht lange anhalten werde.

Nach einigen Jahrzehnten mit sehr tiefer Inflation kennen viele das Phänomen nicht mehr. Wie richtungsweisend die Debatten über die Geldpolitik sein können, zeigt ein Blick in die Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Wirtschaft in Europa rasch, die Reallöhne stiegen im Gleichschritt, eine keynesianisch geprägte Politik dominierte: Sobald die Nachfrage erlahmte, verstärkten die Staaten ihre öffentlichen Ausgaben, um dem entgegenzuwirken. Ende der sechziger Jahre begann sich das Wachstum abzuschwächen, 1973 traf der Ölpreisschock die europäischen Volkswirtschaften hart. Diese bedienten sich an Massnahmen aus dem eingeübten Repertoire. In den Folgejahren kam es aber zu einem Phänomen, das in der Wirtschaftstheorie eigentlich als abwegig galt: Stagflation, eine Inflation bei schwachem Wachstum.

Die Stunde der Neoliberalen

Paul Volcker, der Chef der US-Zentralbank, reagierte 1979 mit einer Verknappung von frischem Geld und schickte damit eine Schockwelle um den Globus. Es kam zu einer Verteuerung der Kredite, einem Einbruch der Investitionen und einem Rekord an Firmenpleiten. In diesem Desaster schlug die Stunde der Neoliberalen. Sie versprachen Lösungen für die Probleme, die mit den keynesianischen Mitteln nicht in den Griff zu kriegen waren. Eine Deregulierung der Finanzmärkte, Angriffe auf die Arbeiter:innenbewegung und der Sozialabbau, um die Lohnkosten zu drücken, sollten fortan die politische Agenda bestimmen.

Spätestens seit der Finanzkrise 2008 warnen nun die gleichen politischen Kräfte vor der Inflation. Ihre Theorie, laut der eine steigende Geldmenge zu Inflation führen muss, hat sich im letzten Jahrzehnt als falsch erwiesen. Mittlerweile fordern sie dringlich eine härtere Zentralbankpolitik und malen erneut eine Stagflation an die Wand. Eine historische Parallele sehen sie in den stockenden Lieferketten und den steigenden Rohstoffpreisen, wodurch sich Produkte und Dienstleistungen verteuern.

Laut SGB-Ökonom Lampart ist die Situation allerdings nicht vergleichbar: In den späten sechziger Jahren ging eine Prosperitätsphase mit starken Reallohnzuwächsen zu Ende, die Gewerkschaften waren stärker und konnten Lohnerhöhungen auf breiter Front durchsetzen. Die Folge war die berüchtigte Lohn-Preis-Spirale, in deren Folge sich Löhne und Preise wechselseitig in die Höhe trieben und sich das Geld entwertete. «Davon sind wir heute weit entfernt», so Lampart.

Eine linke Zentralbankpolitik

Das Szenario einer Lohn-Preis-Spirale und einer Stagflation ist für Wirtschaftsliberale aber politisch opportun: Eine restriktive Geldpolitik würde die Spielräume für Fiskal- und Sozialpolitik verengen und die neoliberale Programmatik befördern. In Europa ist ein Kurswechsel der EZB, die von einer vorübergehenden Teuerung ausgeht, derzeit aber nicht zu befürchten. Ihr Chefvolkswirt Philip Lane hatte dies kürzlich in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung «El País» nochmals unterstrichen. Man wolle den Aufschwung nicht gefährden und die Finanzierungskosten nicht zum «Entgleisen» bringen, sagte er. Im europäischen Süden dürfte man aufgeatmet haben.

Was derzeit geschieht, ist aber kein Revival linker Wirtschaftspolitik von den Kommandohöhen der Zentralbanken. Deren Massnahmen waren weder einer sozialen Bewegung noch politischen Argumenten der Linken zu verdanken. Im Gegenteil: Die technokratischen Institutionen sind der demokratischen Kontrolle entzogen. Sie sind mit der Stabilität des Systems befasst, auch wenn sich dieser Auftrag etwas variieren lässt. Ihr billiges Geld landete zum allergrössten Teil bei Investoren und Superreichen.

Die Einschätzung in den Chefetagen der Zentralbanken kann sich ohnehin wieder ändern. Kürzlich hat die wichtigste Nationalbank der Welt, die Federal Reserve in den USA, bereits angekündigt, das Hilfsprogramm gegen die Coronakrise zu drosseln. Mitte nächstes Jahr könnten erste Zinserhöhungen anstehen, falls die Märkte nicht panisch reagieren. Daniel Lampart, der zwölf Jahre im Bankrat die Schweizerische Nationalbank beaufsichtigte, sagt, Demokratien täten gut daran, den Zentralbanken genau auf die Finger zu schauen. Wie wichtig das ist, zeigen die aktuellen Debatten und ihre potenziellen Folgen.