Rebell:innenrätsel: Der allerletzte Bundesrepublikflüchtling

Nr. 50 –

Anfang März 1990 trat er auf dem Schriftsteller:innenkongress der DDR auf, kurz vor deren Ende. Seine Rede leitete er mit den Worten ein: «Ich komme aus Westberlin, ich bin seit 1. September 1989 DDR-Bürger, ich habe drei Bücher veröffentlicht, und ich bin Kommunist.»

Gut möglich, dass der 1960 als Sohn einer Krankenschwester in Magdeburg Geborene und in der Bundesrepublik Aufgewachsene der Letzte war, der vom Westen in den Osten rübermachte. Damit folgte er dem Rat von Peter Hacks, mit dem er von Westberlin aus korrespondiert hatte. Der Dramatiker hatte ihm geschrieben, dass er unbedingt in die DDR kommen müsse, wenn er ein grosser Schriftsteller werden wolle: «Sie allein stellt Ihnen – auf entsetzliche Weise – die Fragen des Jahrhunderts.»

Bemerkenswert, dass er dieser Empfehlung wirklich folgte: Damals wurde ja massenhaft andersherum ausgereist. Seine Freundin Elfriede Jelinek meinte so auch, es sei «eine seltsame Vorstellung, wie dieser entschlossene junge Mann, einem Tier gleich, das seine Instinkte verkehrt herum eingebaut hat, hartnäckig in eine Richtung strebt, während ringsumher die anderen Tiere wie die Irren vor einem imaginären Buschbrand in die entgegengesetzte Richtung flüchten».

Für ihn aber war das Projekt der deutschen Wiedervereinigung der Versuch zur Konterrevolution. In besagter Rede findet sich eine Passage, die man auch ohne falsche «Ostalgie» heute noch bedenkenswert finden kann: «Wer die Gewerkschaft fordert, wird den Unternehmerverband kriegen. Wer den Videorekorder will, wird die Videofilme kriegen. Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen.»

Vom bundesrepublikanischen Pluralismus hielt so einer natürlich wenig. In seinem Buch «die tage in l.» heisst es: «egal was aus dem fernseher rauskommt, es ist alles literatur. das verhältnis der brdbürger zur Welt ist ein literarisches. es darf unerbittlich alles behauptet werden, dafür ist nichts davon wahr.» Schon in diesem Westen hatte er sich einen Namen gemacht, auch mit Auftritten in Talkshows, in die er eingeladen wurde, nachdem 1980 – da ging er noch aufs Gymnasium in der Nähe von Hannover – seine «kleinstadtnovelle» erschienen war. Diese erzählt von einem Coming-out in der Provinz: Er war nämlich nicht nur Kommunist, sondern auch schwul, was er offen lebte.

Wie heisst der Schriftsteller, der 1991 an Aids starb – mit nur 31 Jahren?

Wir suchten Ronald M. Schernikau. Nach dem Abitur ging dieser zum Studium erst nach Westberlin, dann nach Leipzig, wo er als Westbürger am Institut für Literatur «Johannes R. Becher» zugelassen wurde und seine Abschlussarbeit anfertigte. Aus dieser ging das Buch «die tage in l. – darüber, dass die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur» hervor. Sein Opus magnum «legende» erschien 2019 in einer Neuauflage im Verbrecher-Verlag. Schernikaus Freund Matthias Frings veröffentlichte 2009 die Biografie: «Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau» im Aufbau-Verlag.