Kunstkollektiv DIS: Die Komplexität des Banalen
Das New Yorker Kunstkollektiv DIS will lineare Fortschrittsnarrative unterwandern und greift dazu auf ästhetische Mittel aus dem Mainstream zurück. Kann das gelingen?

Im Centre d’Art Contemporain de Genève darf man sich auf kuschelige Heizdecken legen, durch orange getönte Fenster dringt warmes Licht. Doch ganz so wohlig fühlt sich das nicht an, denn Ventilatoren sorgen gleichzeitig für eine kühle Brise. In diesem Setting zeigt das New Yorker Kunstkollektiv DIS, bestehend aus Lauren Boyle, Solomon Chase, David Toro und Marco Roso, seinen Film «Everything but the World». Die Dokufiktion ist als Pilotfolge einer Serie konzipiert, die nichts weniger verspricht, als eine neue, nicht lineare Naturgeschichte zu erzählen. Im Fokus steht der Mensch als Wesen, das sich für hoch entwickelt hält.
Ein mit Bodypainting versehener Homo sapiens irrt planlos durch die Wüste. Einen Augenblick später befüllt er an einer Tankstelle sein Auto. Die «objektive» Beobachtung der menschlichen Spezies, die Naturdokumentarfilmen nachempfunden ist, zieht dieser Film allerdings nicht lange durch. In Anlehnung an Plattformen wie Youtube oder Tiktok lässt er die Spezies die Kamera auch mal auf sich selbst richten.
Kritik to go
In einer Szene beim Drive-through einer Fastfoodkette wird es beinahe existenzialistisch: «Eine Ewigkeit» müsse sie hier warten, berichtet eine junge Frau im hochkantigen Format aus ihrem Auto, um daraufhin am Bestellschalter via Lautsprecher belehrt zu werden: Der Mensch habe gemessen am Erdzeitalter keine Ahnung von der Ewigkeit. Der Exkurs driftet zu Zahlen, die besagen, dass wegen der Herstellung der soeben bestellten Nuggets weitaus mehr Hühner als Menschen die Erde bevölkern. Nach einigen Stationen landet die Lautsprecherstimme beim Postkolonialismus, dann ist das bestellte Menü abholbereit. Das Publikum kann sich auf den beheizten Decken wieder etwas bequemer einrichten.
Doch darauf, dass sich die Anspannung ganz auflöst, wartet man vergeblich. Stattdessen reiht sich pausenlos ein Fragment ans nächste. Hier und da könnte man «Everything but the World» für eine Verfilmung der «Dialektik der Aufklärung» halten. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno spannten in diesem Buch von 1947 den Bogen weit zurück, um die Erzählung eines vernunftgeleiteten Fortschritts als Mythos zu entlarven. Narrativen, die derart lückenlos und allgegenwärtig sind, dass sie alternativlos erscheinen, sagt auch «Everything but the World» den Kampf an. Menschen würden am liebsten immer wieder die gleichen Geschichten hören, wird per Voiceover erklärt. Aber Geschichte verlaufe nicht linear, und Fortschritt sei nicht pfeilgesteuert, sagt dieselbe Stimme einmal, während der Pfeil einer Bogenschützin einen Wegwerfbecher der von vorhin bekannten Fastfoodkette durchbohrt. Einzelne wiederkehrende Elemente suggerieren zwar, dass alles schon irgendwie zusammenhängt. Indem sich die Filmsequenzen aber ohne roten Faden und mit jeweils unterschiedlichen Figuren und Szenerien aneinanderreihen, entsteht keine gradlinige Metaerzählung.
Dennoch ist die Botschaft eine erstaunlich eindeutige Fortschritts- und Eigentumskritik. Dazu setzt DIS innerhalb der einzelnen Sequenzen auch auf ästhetische und dramaturgische Mittel des Mainstreams und sieht in dieser Herangehensweise keinen Widerspruch: Um dominante Narrative zu zerstören oder überhaupt sichtbar zu machen, brauche es ein neues Storytelling, sagt Kollektivmitglied Lauren Boyle im Gespräch. Doch inwieweit lässt sich mit altbewährten Mitteln eine neue Geschichte erzählen? Gewiss sind die plakativen Bilder und Phrasen sowie der niederschwellige Humor aus der Pilotserie eingängiger als anstrengend zu lesende philosophische Fragmente. Bedenken, den Mitteln der in der «Dialektik der Aufklärung» für fatal befundenen «Kulturindustrie» zu verfallen, hat DIS jedenfalls keine. Boyle zufolge geht es vielmehr darum, welche Werte man damit transportiert.
Der Film ist nur eine von einem Dutzend Pilotfolgen, die verschiedene Kunstschaffende aus dem Umfeld von DIS sowie aus der Region für die Biennale de l’Image en Mouvement im Genfer Centre d’Art Contemporain produziert haben. DIS hat auf Einladung von Andrea Bellini, dem Direktor des Kunstzentrums, die Biennale gemeinsam mit ihm kuratiert. Die Räume wurden in ein gespenstisches Hotelambiente transformiert, in den Gängen dimmt das Licht der Lampen langsam rauf und runter. Dabei handelt es sich um ein Werk des Kollektivs GRAU, das sowohl atmosphärisches Design als auch schläfriges Alarmlicht sein könnte. Jede Folge logiert in einem eigens eingerichteten Zimmer. Bellini wollte zurück zum klar umgrenzten Bildschirm, nachdem sich die Bewegtbilder an der vergangenen Biennale wild im Raum überlagert hatten. Da war DIS für eine Zusammenarbeit prädestiniert, denn das Kollektiv betreibt seit 2018 die Streamingplattform dis.art.
Die Oberfläche der Plattform unterscheidet sich nicht wesentlich von jener kommerzieller Anbieter wie Netflix. Unter «Trending» findet sich zuoberst die für die Biennale produzierte Folge «Couture Critiques» von Mandy Harris Williams. Die Theoretikerin und Künstlerin übersetzt eine Vorlesung Edward Saids über die mediale Repräsentation von Intellektuellen so unterhaltsam wie überzeugend aus den neunziger Jahren ins Heute. Unter einem weiteren Link werden die Inhalte thematisch nach «Natur», «Nationen», «Identität» und «Kapital» kategorisiert, wobei sie genau solche Konzepte infrage stellen.
Eigene Infrastrukturen
In der «Fusion von Unterhaltung und Kultur» sahen Horkheimer und Adorno noch eine doppelte Abwertung: Sie befürchteten eine «Deprivation der Kultur» beziehungsweise «Vergeistigung des Amusements». DIS, von solchen bildungsbürgerlichen Hierarchisierungen unbeeindruckt, bewirbt das Projekt als eine Plattform für «Edutainment». «Wir versuchen, es den Leuten nicht unnötig schwer zu machen», erklärt Lauren Boyle die attraktive Verpackung der theoriegetränkten Inhalte. Diese können sogar über den offiziellen US-Bibliothekskatalog gefunden und von Bildungsinstitutionen abonniert werden. Die Frage, wie (unkritischer) Konsum und Kritik zueinander passen, will Boyle nicht verstehen. Wurde hier die alte Dialektik aufgegeben oder konsequent weitergedacht, wenn sich einstige Gegensätze nicht mehr ausschliessen, sondern fröhlich fusionieren?
Schon frühere DIS-Projekte wie das Onlinemagazin «dis art», die Datenbank «dis images» oder der Onlineshop «dis own» hatten eine ähnliche Stossrichtung. Passend zur Negativvorsilbe, nach der sich das Kollektiv benannt hat, changiert seine Strategie zwischen Branding und Entzug – dieser zeigt sich auch ganz konkret, wenn man «DIS» ohne weitere Schlagworte über Suchmaschinen vergeblich im Netz zu finden versucht. Als DIS vor fünf Jahren die Biennale Berlin kuratierte, stiess die dort omnipräsente Markenästhetik auf Kritik; man warf dem Kollektiv vor, einer Oberflächlichkeit verhaftet zu sein, ohne damit zu brechen. Doch wird dieser Bruch unterdessen nicht derart routiniert von der Kunst erwartet, dass er uns kaum noch aus dem Konzept bringt?
In Genf gibt DIS gar nicht erst vor, eine Lösung für die in den Pilotfolgen aufgezeigten Probleme zu kennen. Die Pilotfolgen sind als Anfang, nicht als Endpunkt gedacht. «Unser Ziel ist es, die Leute in Komplexität zu trainieren», lautete ein Slogan, als dis.art lanciert wurde. Dazu schreckt das Kollektiv nicht davor zurück, auf bewährte ästhetische Mittel aus der Unterhaltungsindustrie und von Social Media zurückzugreifen, und zwar ohne diese immer brav zu dekonstruieren. Stattdessen operiert das Kollektiv pragmatisch und fast schon optimistisch im Jetzt.
«A Goodbye Letter. A Love Call. A Wake Up Song», Biennale de l’Image en Mouvement in: Genf, Centre d’Art Contemporain, bis 20. Februar 2022. www.bim21.ch, www.dis.art, 5e.centre.ch