Wichtig zu wissen: Die Mutter aller Schlachten

Nr. 4 –

Ruedi Widmer über Telegram, das Mediengesetz und ein Albumcover

Eine Vorausbemerkung: Der Prozess gegen den ehemaligen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz findet typischerweise im Volkshaus Zürich statt – ob das gut kommt, wenn ein städtischer Arbeiterrat einen rechtschaffenen und fleissigen Banker und Bergler und ungekrönten «Schweizer des Jahres» aburteilt?

In den Nachrichtendienst Telegram einzutreten, ist ein bisschen, wie in den neunziger Jahren durch den Zürcher Platzspitz oder den Bahnhof Letten zu gehen. Überall Abfall und teilweise bereits verlorene Menschen, aus dem gleichen Wohnort wie man selber, die keinerlei Halt mehr haben und sich mit gestrecktem, minderwertigem Wirrwarr aus Buchstaben, Satzzeichen und kleinen infantilen Bildchen zudröhnen und zuradikalisieren. Die Gesellschaft und die Politik ignorieren dieses soziale Desaster, auch weil es, anders als die einstigen Drogenszenen, weitgehend unsichtbar ist. Die Telegram-Bosse sahnen die Werbeeinnahmen ab und lassen die Menschen an ihren SIM-Karten hängen.

Die traditionellen Schweizer Medienhäuser haben einerseits das gleiche Problem wie die USA und «Europa» bezüglich Russland: Man mag erstere beide politisch nicht sonderlich, deshalb kippen viele Konsument:innen trotzig auf die Gegenseite. Andererseits ist es auch schwierig für den Journalismus, in dieser Schlacht um Bedeutungshoheit gleich lange Spiesse wie die Social Media und die faktenfreie Fantasiepresse zu haben, weil in den Zeitungen alles stimmen muss, inklusive der Rechtschreibung. Das ist ein Korsett, über das wir in den seriösen Medien diskutieren müssen. Es braucht dringend Reformen, damit mehr Texte wie diese Kolumne erscheinen dürfen, in denen nur die Hälfte stimmt. Journalismus mit fünfzig Prozent Wahrheit kann man weiterhin als Qualitätsjournalismus bezeichnen, und trotzdem erreicht man damit einige Kuhglockenschwinger und Telegram-Sozialisierte. Die Grenzwerte werden schliesslich auch an anderen Orten den Umständen angepasst, und die Zeitungen müssen eben nicht jammern und die hohle Hand machen, um irgendwelche recherchierenden Journalist:innen anzustellen, sondern möglichst viele Leser:innen anziehen, denn für alle fällt so immer noch ein Krümel Qualitätsjournalismus herunter, aber es hat wenigstens wieder Autowerbung in der Zeitung.

Social Media haben einen grossen Vorteil gegenüber den traditionellen Medien, was den Wettbewerb enorm verzerrt: Die Recherche ist an die Lesenden ausgelagert, deshalb ist alles auch kostenlos. Jeder recherchiert selbstverantwortlich, ob der in Telegram oder Facebook verlinkte Beitrag aus der Fake-News-Welt tatsächlich stimmt. Durch die Eingabe des Artikelnamens bei Google kommt er schnell direkt auf denselben Fake-News-Artikel und sieht so – «aha, da stehts ja auch im Internet» – eine wichtige Zweitabsicherung. Schliesslich haben wir hohe Bildungsausgaben in der Schweiz, die Kompetenzen erwarten lassen.

Die Atomenergie ist politisch back in town, das Bürgertum möchte sofort bauen, bezahlen will es niemand. Die Solarenergie wird gleichzeitig von millionenschweren Lobbys schlechtgeschrieben. Begonnen hat alles im letzten Sommer, als SVP-Nationalrätin, Milliardärin und Ems-Chefin Magdalena Martullo-Blocher erstmals wieder AKWs verlangte. Sie könnte aus ihrer Privatschatulle gleich mehrere Atomkraftwerke finanzieren, macht es aber nicht, weil es nicht rentiert.

Ich zeichnete damals einen Cartoon, den ich aber nie veröffentlichte, weil ich ihn letztlich (vielleicht zu Unrecht) frauenfeindlich fand: Darauf ist das Albumcover der LP «Atom Heart Mother» von Pink Floyd abgebildet, derweil anstelle des Wiederkäuertiers die Nationalrätin auf der Wiese steht. Die seitlich aus dem Cover lugende Vinylplatte ziert das Radioaktiv-Symbol. Über dem Cartoon steht «Restseller auf dem Bündnerteller».

Ruedi Widmer begegnet seiner winterlichen Sonnensucht mit einem Vitamin-D-Präparat.