Verschmutztes Trinkwasser: Emser Giftbrühe
In Domat/Ems geschieht das Undenkbare: Die Gemeinde wehrt sich gegen die allmächtige Ems-Chemie.

In Domat/Ems ist alles in bester Ordnung. Das Trinkwasser? Von höchster Qualität! Sorgen? Allesamt unbegründet! Es gibt ein Foto, das genau das demonstrieren soll. Geschossen hat es ein Fotograf der «Südostschweiz» im letzten Sommer. Auf dem Bild zu sehen: Erich Kohler, der Gemeindepräsident von Domat/Ems, wie er aus dem Hahn des Dorfbrunnens Sentupada Wasser schlürft. Davor waren Schadstoffe im Grundwasser aufgetaucht. «Das Emser Trinkwasser ist bedenkenlos konsumierbar», erklärte Kohler feierlich und verteilte Wassergläser an Umstehende. Waren die Leute vorher verunsichert, waren sie nun ernsthaft besorgt.
Das war vor nicht einmal einem Jahr. Heute wäre so eine Aktion undenkbar. Heute sagt Kohler: «Ich muss für die Sicherheit der Bevölkerung sorgen. Sie hat ein Recht auf sauberes Trinkwasser.»
Der Giftstoff, der damals im Emser Trinkwasser auftauchte, heisst Chlorothalonil. Bäuer:innen versprühten das Pilzschutzmittel in der Schweiz im grossen Stil auf ihren Feldern, bis es die Behörden wegen seiner krebserregenden Wirkung 2020 verboten. Doch das Gift steckt noch immer im Boden, von wo es ins Grundwasser gelangt. Den mit Chlorothalonil belasteten Grundwasserbrunnen hat die Gemeinde mittlerweile für die meiste Zeit des Jahres stillgelegt.
Allerdings ist das Wasserproblem für Domat/Ems damit nicht gelöst: Chlorothalonil ist nicht das einzige Gift im Grundwasser. Der zweite Stoff, der hier vorkommt, ist Trichlorethylen, ein industrielles Lösungsmittel, genutzt zur Entfettung von Metall und unter Verdacht, Nieren- und Leberkrebs zu erregen. Besonders problematisch für Domat/Ems: Die Substanz belastet den zweiten Grundwasserbrunnen auf Gemeindegebiet. Damit die Bevölkerung das Hahnenwasser überhaupt noch trinken kann, lässt die Gemeinde für viel Geld sauberes Quellwasser aus dem benachbarten Tamins zuleiten. Das Emser Wasser wird so stark verdünnt, dass die Grenzwerte eingehalten werden.
Während die Verschmutzung mit dem Pilzschutzmittel kaum zu beheben ist, wäre das Problem mit dem Trichlorethylen nach allem, was bekannt ist, zu lösen. Es ist bloss eine Frage des Geldes. Und zwar für jenes Unternehmen, das den Stoff mutmasslich in die Erde gebracht hat und das dem Ort seinen Namen verdankt: die Ems-Chemie von SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher.
Behördliches Versteckspiel
Am Rand des riesigen Werksgeländes der Ems befindet sich ein Areal so gross wie ein Fussballfeld, auf dem seit den 1950er Jahren bis Ende der Neunziger Abfälle aus der Chemieproduktion verscharrt wurden. Was genau für Gifte dort im Boden sind, hält der Kanton unter Verschluss. Als es SRF vor ein paar Jahren gelang, alte Messberichte herauszuklagen, waren die entsprechenden Passagen geschwärzt. Öffentlich bekannt ist bloss, dass im Grundwasser rund um die Deponie Trichlorethylen und Fluorid gefunden wurden – wie auch im 2,4 Kilometer entfernten Grundwasserbrunnen Bagliel. Dazwischen: nur Wiesen und ein Golfplatz.
Bei einer Trinkwasserverschmutzung besteht gemäss Altlastenverordnung Nulltoleranz. Eine Belastung löst sofort einen Sanierungsauftrag aus. Allerdings nur dann, wenn der Ursprung der Verschmutzung feststeht. Im Fall der Emser Deponie behauptet der Kanton, ein eindeutiger Zusammenhang sei nicht herzustellen und die Quelle der Verschmutzung aufgrund der komplizierten Grundwasserströme im Bergsturzgebiet, in dem sich die Deponie befinde, nicht zu identifizieren. In einer neuen Verfügung hat das Bündner Amt für Umwelt deswegen festgehalten, dass die Ems nicht sanieren müsse, sondern lediglich die Deponie für weitere vier Jahre überwacht werde – nachdem eine Voruntersuchung schon fast zwanzig Jahre dauerte.

Anita Mazzetta, die für den WWF arbeitet und für die Grünen im Kantonsparlament sitzt, kann die Haltung des Umweltamts nicht nachvollziehen: «Woher soll das Gift denn sonst kommen?» Der WWF hat genauso wie die Gemeinde Domat/Ems gegen die Verfügung Einsprache eingelegt, die Deponiesanierung wird damit zum Fall für die Gerichte.
Was der Kanton und der Konzern zur Kritik am Entscheid sagen, was sie zum Zustand der Deponie und den dort gelagerten Giften wissen, beantworten beide genauso wenig wie alle anderen Fragen. Auch die Verfügung will das Amt nicht offenlegen. Alles mit Verweis auf das laufende Verfahren. Selbst die Bevölkerung von Domat/Ems kennt die Verfügung nicht und wird weiter im Dunkeln darüber gelassen, welchen potenziellen Gefahren sie ausgesetzt ist.
Das Versteckspiel der Behörden irritiert. Wie auch das jahrelange Verschleppen der Sanierung. Mazzetta ist sich sicher: «Bei einem kleinen Player wäre ganz anders gehandelt worden.» Doch Magdalena Martullo-Blocher und ihre Ems seien dafür bekannt, Geschäftsinteressen mit aller Macht durchzusetzen. Als die Bündner Grünen eine Petition lancierten, in der sie die Sanierung der Deponie forderten, marschierten sofort die Anwält:innen der Ems-Chemie auf und behaupteten, die Grünen hätten rufschädigende Aussagen gemacht. Die Anwält:innen hätten nicht lockergelassen, «da haben wir sie irgendwann ignoriert, dann hörte der Druck auf», so Mazzetta.
Ihre Kritik richtet sich an das Bündner Umweltamt. Wie sich nachträglich herausstellte, habe man mit einer falschen Methode messen lassen. Wichtig wäre darum, bei den weiteren Untersuchungen des Grundwassers eine andere Methode zu wählen. Was aber nicht geschehen ist. Was wirklich in der Deponie entsorgt wurde, könne nur eine umfassende Untersuchung freilegen, sagt sie. «Es ist unhaltbar, dass das bis heute nicht passiert ist.»
Es gibt eine weitere bislang nicht bekannte Auffälligkeit im behördlichen Umgang mit dem Konzern. So verlangte das Bündner Umweltamt ursprünglich, die Ems müsse das betriebseigene Pumpwerk 5 einen halben Tag vor einer Probeentnahme abstellen, damit das belastete Grundwasser nicht einfach abgesaugt werden könne, wodurch Messungen womöglich beschönigt würden. Als die Rechtsabteilung der Ems-Chemie die Auflage kritisierte, knickte das Amt gleich ein. Vertrauenerweckend ist das alles nicht. Aber vielleicht beispielhaft für die besondere Stellung, die die Ems-Chemie in Graubünden geniesst.
Aus den Augen, aus dem Sinn
Annäherung zu Fuss an die Deponie. Ein spannender Ort sei das, sagt Mazzetta und zeigt auf eine riesige geteerte Fläche gleich gegenüber der Ems-Chemie. Hier stand einmal eine mit viel Steuergeld geförderte Grosssägerei, die 2011 pleiteging. Auf dem Gelände der Ems wiederum steht ein Biomassekraftwerk der Axpo, das unter anderem gebaut wurde, um die Sägerei mit Wärme zu versorgen. Nun leitet das Werk die Wärme halt in den Rhein oder bläst sie in die Luft. Bei so viel fehlgeschlagener Industrieplanung wirkt die Ems wie ein stabiler Anker. Das schafft Abhängigkeiten – und damit auch Beisshemmungen?
Mit auf dem Spaziergang ist die Hydrogeologin Kathrin Pfister, die für die SP im Gemeinderat sitzt. Sie trägt die Einsprache gegen die Verfügung des Umweltamts mit. «Für die Leute im Ort ist die Geschichte hochemotional», sagt sie. Einerseits sei die Ems wichtige Arbeitgeberin und spüle als grosse Steuerzahlerin sehr viel Geld in die Gemeindekasse, andererseits sei die Versorgung mit sauberem Trinkwasser gefährdet. Pfister kritisiert den Konzern dafür, dass er diesen Notstand nicht von sich aus beseitigt: «Eine vorbildliche Firma würde die Deponie sanieren und das Problem lösen, das sie verursacht hat.» Sie befürchtet, dass sich das giftige Trichlorethylen ab einer bestimmten Konzentration dauerhaft im Grundwasser festsetzt.
Der Schotterweg entlang des Betriebsgeländes geht steil hinauf. Die Deponie selber ist von zwei Hügeln eingefasst und vor neugierigen Blicken gut geschützt. Durch die Bäume hindurch ist eine überwachsene Brache zu erkennen. Das war nicht immer so. Pfister sagt, sie habe mit älteren Dorfbewohner:innen über die Deponie gesprochen. Sie hätten ihr von einem See erzählt, «der jeden Tag in einer anderen Farbe geleuchtet hat». Ein chemisches Spektakel für die Emser Bevölkerung, das die Betriebsführung bald unterband, indem sie den Giftsee abdeckte. Aus den Augen, aus dem Sinn. «Was hier geschah, haben viele verdrängt und vergessen», sagt Pfister.
Oder ist das vielleicht alarmistisch? Anruf bei Gustav Ott, ehemaliger Arbeitsmediziner der Ems-Chemie und heute regelmässiger Kritiker des Konzerns in Leserbriefen – ausser bei der Frage «Sanieren ja oder nein», da steht Ott ganz auf der Ems-Linie. Der SP-Mann vertritt die «Gipstheorie». Die besagt, dass sich in den Anfangszeiten der Deponie durch das Verschütten von mit Kalkmilch versetzter Schwefelsäure eine Gipsschicht am Boden gebildet hat. «Eine inerte Deponie [eine, die die in ihr ablaufenden chemischen Prozesse nicht beeinflusst, d. Red.] soll man nicht anfassen», sagt Ott, der auch davon abrät, die Deponie detailliert zu untersuchen. Denn dazu müsste man die Gipsschicht anstechen, «und das gibt nur neue Schwierigkeiten». Für ihn wurde mit der Verdünnung des belasteten Wassers ein praktikabler Umgang mit dem Problem gefunden, die Alternative hält er für unverhältnismässig: «Der Energieaufwand wäre gewaltig, würde man das ganze Erdreich ausgraben und in einem Sondermüllofen verbrennen.»
Anita Mazzetta vom WWF dagegen hält nichts von der Gipstheorie: «Selbst wenn es diese Schicht überhaupt gibt, ist sie offensichtlich nicht dicht, denn schon heute fliessen höchstwahrscheinlich Schadstoffe aus der Deponie ab.» Die Deponie ist für sie eine tickende Zeitbombe.
Kohlers Wende
Auch Gemeindepräsident Erich Kohler, Mitglied der Mitte-Partei, drängt auf rasche Sanierung. Es sei nicht hinnehmbar, wie der Kanton mit der Gemeinde umgehe: «Alle unsere Argumente werden einfach ignoriert.» Kohler hat eine beachtliche Wende vollzogen: vom Brunnenschlürfer zum Warner. Und er ist nicht allein damit. Der Entscheid, die Verfügung des Umweltamts anzufechten, soll im Gemeindevorstand einstimmig gefallen sein. Selbst der SVP-Vertreter Daniel Meyer, zuständig für Sicherheit und Umwelt, stimmte zu – und damit gegen die Interessen seiner Parteikollegin Martullo-Blocher.
Kohler sagt, eine grosse Mehrheit der Bevölkerung begrüsse die Initiative der Gemeinde. Der Vorfall mit dem Chlorothalonil letzten Sommer habe ein neues Bewusstsein geschaffen: «Plötzlich wurde vielen klar, wie verletzlich wir beim Trinkwasser sind.» Und auch, wie die Gemeinde dem Konzern ausgeliefert sei. Die Quelle der Verschmutzung sei auch dann sanierungsbedürftig, wenn dahinter ein Emser Grosskonzern stecken sollte. Die Beschwerde richte sich jedoch gegen den Kanton, weil dieser keine griffigen Massnahmen verfügt habe. Die Gemeinde stehe also nicht im Konflikt mit dem Konzern. Doch ist das in diesem Fall überhaupt auseinanderzuhalten?