Türkei: «Es ist bald nichts mehr übrig, was ich noch reduzieren kann»

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Trotz der hohen Inflation hält Präsident Recep Tayyip Erdogan an seiner eigenwilligen Finanzpolitik fest. Viele Bewohner:innen der Türkei geraten in Geldnöte und stehen für verbilligtes Brot Schlange.

In der kleinen Wohnung von Familie Kahveci im Istanbuler Stadtteil Sariyer ist es fast so kalt wie draussen. Seit Wochen steht die Heizung hier auf null. Auch das Licht wird nur eingeschaltet, wenn es wirklich sein muss. Im Januar, als es schneite und ganz Istanbul tagelang unter einer weissen Decke verschwand, sei es zwar noch kälter, aber tagsüber wenigstens schön hell gewesen, sagt Kader Kahveci. Sie sitzt am Esstisch, der im Flur zwischen Küche und Wohnzimmer steht. Ihr Nachname bedeutet übersetzt «Kaffeemacher», doch für Kaffee hat Familie Kahveci kein Geld mehr.

Die Einrichtung der Wohnung ist ein zusammengewürfeltes Sammelsurium aus zweiter Hand. Auf weissen Schränken, die auseinanderzufallen drohen, stapeln sich alte Kartons, die als Stauraum genutzt werden. Die Waschmaschine in der Ecke ist mit einer leicht verschmutzten Decke zugedeckt. Drei Bilder der Familie Kahveci, die auf der dunklen Kommode hinter dem Esstisch stehen, sind die einzigen Dekorationsstücke im Raum. Zu sehen sind Kader, ihr Mann und der gemeinsame Sohn Baris. Ein Bild zeigt Letzteren stolz strahlend an seinem allerletzten Schultag.

Der heute Siebzehnjährige ist im Vorbereitungsjahr für die Universität, erzählt seine Mutter und stöhnt: «Seine Ausbildung kostet uns ganz schön viel.» Manchmal reiche das Geld nicht für sein Busticket. «Ich weiss nicht, wie es weitergehen soll. Ich kann nicht mehr denken», erzählt die 38-Jährige. Reich seien sie nie gewesen. Aber das Gehalt ihres Mannes, der als Gärtner arbeitet, und das, was sie als Köchin in einem Kindergarten verdiene, habe immer gereicht. Bis vor kurzem. «Wenn ich die Heizung auch nur auf die niedrigste Stufe stellen würde, müssten wir doppelt so viel zahlen wie letztes Jahr, als wir es hier schön warm hatten.»

Eigenwillige Wirtschaftspolitik

Offiziell ist die Inflation im vergangenen Jahr um 50 Prozent gestiegen. Unabhängige Institute sprechen von etwa 148 Prozent. Vor den Verkaufsbuden des Istanbuler «Halk Ekmek», des «Volksbrots», bilden sich seit Wochen regelmässig lange Schlangen. Hier kostet das Weissbrot nur zwei türkische Lira, halb so viel wie in den Bäckereien. Wer einen Sozialschein hat, bekommt es kostenlos. Mittlerweile kaufen auch Menschen aus der breiten Mittelklasse hier ein. Die Kahvecis verzichten oft ganz auf Brot.

Die Wechselkurskrise ist zum Dauerzustand geworden. Synchron zur steigenden Verarmung sinkt der Rückhalt von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Selbst bei regierungsfreundlichen Meinungsforschungsinstituten kommt er bloss auf dreissig Prozent Zustimmung. So schlechte Werte hat es in den zwanzig Jahren, in denen Erdogan das Land erst als Minister und dann als Staatspräsident lenkt, nie gegeben. Auf Hilfe vom Staat hofft kaum noch jemand. Auch Kader Kahveci nicht. Von der Regierung erwartet sie nur noch eins: «Dass sie geht.» Ob damit dann alle Probleme gelöst wären? Sie schüttelt den Kopf. «Wer auch immer die Führung antritt, übernimmt ein gesunkenes Schiff.»

Der Ökonom Erdal Saglam aus Ankara sieht das Hauptproblem im von Erdogan 2018 eingeführten Präsidialsystem, mit dem er offiziell alle Entscheidungsgewalt auf sich übertragen hat. Seitdem höre er nicht mehr auf Berater und Ökonominnen. «Seine Wirtschaftspolitik beruht auf ideologischen Überzeugungen, um Wahlen gewinnen zu können», kritisiert Saglam. So halte Erdogan den Ratschlägen der Expert:innen zum Trotz an niedrigen Zinsen und billigen Krediten fest. «Das wird die Inflation und die Wechselkurse noch weiter in die Höhe treiben», ist der Experte überzeugt. Ein weiteres Problem ist die weite Verbreitung von Kreditkarten, die für viele Menschen in der Türkei zu einer Schuldenfalle geworden sind. Etwa jede:r Dritte hat Zeitungsberichten zufolge mittlerweile ein Verfahren wegen solcher nicht beglichener Schulden am Hals. Den Kahvecis blieb das bisher erspart, doch auch sie müssen Kreditkartenschulden abbezahlen.

Für Familie Kahveci begannen die finanziellen Schwierigkeiten mit der Coronapandemie. Als Schulen und Kindergärten geschlossen wurden, musste Kader Kahveci für sieben Monate einen unbezahlten Urlaub nehmen. Obwohl sie mittlerweile wieder arbeiten kann, reicht das Gehalt vorne und hinten nicht. Früher habe sie sich gerne mit Freundinnen in einem Café am Ufer des Bosporus getroffen. «Das ist heute ein Luxus geworden, an den ich nicht mehr zu denken wage», sagt sie. Dann noch die Ausbildung ihres Sohnes: der Weg zur Schule und zurück sowie das Lernmaterial. Um das finanzieren zu können, verzichtet die Familie auf teure Lebensmittel wie Fleisch, Baris kann nicht mit seinen Freund:innen ausgehen. «Er versucht, Verständnis zu zeigen», sagt Kahveci. «Aber ich spüre seine Anspannung.» Manchmal reiche das Geld nicht einmal mehr, um ihm neue Stifte zu kaufen. «Es ist bald nichts mehr übrig, was ich noch reduzieren kann.»

Keine Mehrheit für Neuwahlen

Um Abhilfe zu schaffen, hat Erdogan kürzlich den Mindestlohn um etwa fünfzig Prozent angehoben. Das bringt zwar erst einmal mehr Geld ins Portemonnaie, begünstigt aber die Lohn-Preis-Spirale und damit die Inflation. Das spürt auch Kader Kahveci. «Die Probleme haben sich seitdem nur verschärft.» Die Preise steigen nämlich trotzdem weiter. Besonders belastend sind für viele Personen die Stromrechnungen. Weil etwa zwei Drittel des türkischen Energiebedarfs importiert werden, steigen die Preise wegen der Inflation besonders stark. Manche Haushalte erhielten zuletzt Rechnungen, die doppelt bis dreifach so hoch waren wie zuvor.

Wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise wird seit Monaten in den sozialen Netzen und auf den Strassen gegen die Regierungspolitik protestiert. Tausende zogen zuletzt in mehreren Provinzen wie Izmir, Istanbul, Diyarbakir und Bitlis los. Die Demonstrant:innen forderten sogar den Rücktritt der Regierung. Kader Kahveci fehlt es dafür an Mut. «Protestieren bringt eh nichts.» Auch von Erdogans neuster Massnahme, die Berechnungsgrundlage des Stromverbrauchs zu ändern und Sofortdarlehen bei Banken bereitzustellen, hält sie wenig. Sie dreht das nun leere Teeglas in ihren Händen. «Das reicht alles nicht. Wir brauchen eine grundlegende Veränderung», fordert sie. Das sieht auch die politische Opposition so und verlangt Neuwahlen. Würden die für Sommer 2023 geplanten Wahlen bereits jetzt stattfinden, könnte das Regierungsbündnis von Erdogans AKP und der ultranationalistischen MHP nicht gewinnen. Darin sind sich fast alle Umfragen einig. Doch um Neuwahlen ansetzen zu können, fehlt der Opposition im Parlament die Mehrheit.

Es klopft an Kader Kahvecis Wohnungstür. Eine Freundin kommt vorbei, um sich einen alten Rock von ihr auszuleihen. Die beiden Frauen setzen sich an den Esstisch. Erst vermeiden sie es, über die Wirtschaft zu sprechen. Dann sagt die Freundin, die anonym bleiben will: «Wir sterben zwar nicht, aber wir leben auch nicht richtig.» Sie hofft, dass sich die wirtschaftliche Situation noch mehr verschlechtert, damit der Knoten endlich platze. Kader Kahveci stimmt ihr zu: «Ich rechne damit, dass noch schlimmere Tage auf uns warten.»