Coronakrise in der Türkei: Kein Schutz, nirgends

Nr. 20 –

Während immer mehr TürkInnen ihre Jobs verlieren und wegen der Pandemie ihre Wohnungen nicht verlassen dürfen, können sich TouristInnen im Land frei bewegen – ohne Maske.

Auf der Mauer vor dem Wohnhaus von Neslihan Simsek wächst Wilder Jasmin. Die Pflanze hat das Mauerwerk fast komplett umschlungen, der Duft reicht bis zur nächsten Strassenseite. Hier im Istanbuler Stadtteil Kadiköy auf der asiatischen Seite des Bosporus lebt die 45-Jährige mit ihren drei Kindern im Untergeschoss des Hauses. Wenn sie die Tür öffnet, riecht es aber nicht nach Blumen, sondern nach Benzin – der Eingang zur Wohnung befindet sich in der Tiefgarage des Gebäudes.

Innen ist es dunkel, es gibt nur ein Fenster in der kleinen Zweizimmerwohnung. Es ist zu hoch oben, um rauszuschauen, und zu weit unten, um ausreichend Sonnenlicht hineinzulassen. Einen Blick nach draussen gibt es nur über kleine Monitore, die an einer Wand im Wohnzimmer installiert sind. Sie zeigen die Bilder der Überwachungskameras, die rund um das Gebäude angebracht sind.

«Während der Pandemie habe ich angefangen, hier als Pförtnerin zu arbeiten, deswegen müssen wir gerade auch keine Miete bezahlen», erzählt Simsek. Zuvor habe ihr Mann mit einem Job als Autowäscher für die Familie gesorgt. «Aber seit Corona wird er nicht mehr gebraucht», sagt sie. Denn während des Lockdowns ist der Verkehr in Istanbul zurückgegangen, und in Zeiten der nicht enden wollenden Wirtschaftskrise ist eine Autowäsche eine Dienstleistung, die sich viele sparen. Deswegen sei ihr Mann vor einigen Monaten zurück in sein Dorf gegangen. «Unsere Wohnung ist zu klein, um den ganzen Tag zusammen hier zu leben. Wäre er geblieben, würden wir uns streiten», erzählt Simsek.

Zu Beginn der Coronakrise habe die Familie zunächst staatliche Hilfen beantragt – aber keine Behörde habe auf ihr Gesuch reagiert. Dann lieh sich das Paar ein bisschen Geld bei FreundInnen, doch auch die seien bald mittellos gewesen. «Also habe ich angefangen, in diesem Wohnhaus zu arbeiten.» In den Stockwerken über ihr leben viele betagte Menschen, die angehalten sind, während der Pandemie nicht nach draussen zu gehen. Simsek erledigt täglich deren Einkäufe und bekommt dafür ein wenig Trinkgeld. Damit verdiene sie gerade genug, um mit den Kindern über die Runden zu kommen.

Wie Neslihan Simsek leben gerade viele Menschen in der Türkei am Existenzminimum. Schon vor der Pandemie befand sich die türkische Wirtschaft im Sinkflug. Ausgangssperren, Produktionsstopps und die Schliessung von Grenzen und Geschäften haben die Krise massiv verschärft. Laut einer aktuellen Umfrage des privaten Meinungsumfrageinstituts Metropoll können sich 27 Prozent der Bevölkerung Grundlegendes wie genügend Lebensmittel oder Hygieneartikel kaum mehr leisten. Mehr als die Hälfte der Befragten gaben an, gerade noch Geld für Miete und Essen zu haben.

Vor allem die hohe Inflation macht den Menschen zu schaffen. Die türkische Lira hat seit Beginn der Pandemie nahezu dreissig Prozent an Wert verloren. Nach offiziellen Zahlen liegt die Teuerungsrate aktuell bei 14,6 Prozent. Das private Forschungsinstitut Ena spricht dagegen von 36,7 Prozent – und wurde deswegen gerade von der türkischen Statistikbehörde verklagt. Beharrlich bestreitet die AKP-Regierung, dass die Wirtschaft abstürzt.

Spenden für die Armen

Nach Zahlen des Verbraucherindex, der vom türkischen Statistikamt jährlich veröffentlicht wird, haben sich die Preise für Grundnahrungsmittel innerhalb eines Jahres teilweise verdoppelt. Doch statt in Krisenzeiten zu helfen, machte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kürzlich die EinzelhändlerInnen dafür verantwortlich. «Machen Sie Ihre Arbeit korrekt, und drangsalieren Sie nicht die Bürger!», schimpfte er und drohte Strafen an.

Aber dass die EinzelhändlerInnen selbst kaum etwas für die hohen Preise können, zeigt das Beispiel des Milchpreises, der sich binnen eines Jahres verdoppelte: Die Türkei muss einen Grossteil des Tierfutters und der Düngemittel importieren, weil viele landwirtschaftliche Anbauflächen in den vergangenen Jahren der staatlichen Bauindustrie zum Opfer gefallen sind. Das wirke sich auf die Milch aus, sagt der Milchgrossunternehmer Osman Talu: «Die Kosten für die Herstellung landwirtschaftlicher Produkte und der Wechselkurs sind derart gestiegen, dass die Produzenten die Mehrkosten an die Einzelhändler weiterreichen müssen», erklärt er.

Laut dem Internationalen Währungsfonds gehört die Türkei zu den Staaten, die ihrer Bevölkerung in der Pandemie am wenigsten geholfen haben. Nur einige wenige ausgewählte Firmen und Personen mit einer Sozial- und Arbeitslosenversicherung haben Hilfsgelder erhalten. Die Hunderttausenden unregistrierten ArbeiterInnen gehen leer aus. Dennoch brüstet sich Erdogan damit, Einmalhilfen als Feiertagsgeschenk in Höhe von 1100 türkischen Lira, etwa 117 Franken, an die Ärmsten der Armen verteilt zu haben. Selbst wenn das Geld bei den Bedürftigen ankommen sollte, ist das nur gut ein Drittel dessen, was die staatliche Religionsbehörde Diyanet von den TürkInnen als Spenden für die Armen vor Beginn des heiligen Monats Ramadan gefordert hatte.

Wie überfordert die türkische Regierung aber tatsächlich mit der Pandemie ist, darauf weisen die Regelungen für den letzten Lockdown hin, der für drei Wochen galt und eben erst zu Ende gegangen ist: Landesweit durften die Menschen das Haus nur zum Einkaufen, für einen Arztbesuch und zum Arbeiten verlassen. Für TouristInnen galt das alles nicht – sie durften sich vor Ort frei bewegen, und das sogar ohne Maske. Seit Montag gelten nun Ausgangsbeschränkungen, von denen sie aber ebenfalls ausgenommen sind. «Kommen Sie in die Türkei. Jetzt auch ohne Türken» hiess es in einer Satire auf Tourismuswerbung, die in den sozialen Netzwerken kursierte.

Die Gäste werden dringend benötigt, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. «Wir werden bis Ende Mai jeden impfen, der auch nur einen Touristen zu Gesicht bekommt. Nicht nur alle, die in Hotels oder Restaurants arbeiten, sondern auch Busfahrer oder die, die an Flughäfen arbeiten, oder Reiseleiter», versprach Aussenminister Mevlüt Cavusoglu. Dabei gab es Probleme bei den Nachschublieferungen des Impfstoffs; noch vor wenigen Wochen wurden täglich Rekordwerte von rund 60 000 Infektionen unter den 84 Millionen TürkInnen verzeichnet.

Inzwischen sinken die Fallzahlen zwar wieder, aber MedizinerInnen und die Opposition zweifeln an den Zahlen, denn es wird wenig getestet. Und ein Ende der Wirtschaftskrise ist nicht in Sicht, der Abwärtstrend geht immer weiter: Eigentlich hat die Regierung verboten, während der Pandemie ArbeiterInnen zu kündigen. Laut Medienberichten haben allerdings alleine im Februar 250 000 Personen ihre Jobs verloren.

Viele neue MillionärInnen

Doch es gibt auch KrisengewinnerInnen, wie die Zahlen der türkischen Bankenaufsicht BDDK zeigen. So habe das Land aktuell so viele Lira-MillionärInnen wie nie zuvor. In den vergangenen zwölf Monaten sind demnach fast 86 000 dazugekommen. Das habe eindeutig mit der Coronakrise zu tun, sagt ein Gründungsmitglied von Erdogans AKP, das namentlich nicht genannt werden will. Denn wer Kritik an der Regierung übt, muss mit einer Gefängnisstrafe rechnen. «Der neue Wohlstand ist aber nicht langfristig, sondern einer einmaligen Dynamik geschuldet», sagt das AKP-Mitglied. Die meisten der neuen MillionärInnen seien FirmeninhaberInnen aus der Mittelklasse, deren Kundschaft meist EinzelhändlerInnen seien, deren Geschäfte wegen der Pandemie seit Monaten geschlossen sind. «Stattdessen haben grosse Unternehmen wie Supermarktketten ihr Sortiment erweitert und Massenbestellungen bei ihnen aufgegeben», erklärt er.

Die eigentlichen GewinnerInnen bleiben damit die ganz grossen Firmen und Holdings, die ihren Betrieb weiterhin problemlos aufrechterhalten konnten. Das passt wiederum zu den Schätzungen von ÖkonomInnen, wonach sich neunzig Prozent der TürkInnen 18 Prozent des Nationaleinkommens teilen, während die übrigen 82 Prozent auf zehn Prozent der Bevölkerung entfallen. Zum Vergleich: Als die AKP im Jahr 2002 die Regierung übernahm, hatten die ärmeren 90 Prozent der Bevölkerung noch fast doppelt so viel Anteil am nationalen Gesamteinkommen wie heute.

Von der Regierung selbst gibt es dazu – wenig überraschend – keine Stellungnahmen. Stattdessen erklärte Finanzminister Lütfi Elvan vor wenigen Tagen, dass die Türkei für das laufende Jahr ein Wirtschaftswachstum von mehr als fünf Prozent erwarte. Das Bruttoinlandsprodukt würde durch ein Exportwachstum von bis zu zwanzig Prozent steigen. Ein deutscher Unternehmer, der seit fünfzehn Jahren im Land ist und namentlich nicht genannt werden möchte, hält das für realistisch.

Die Türkei werde bei ausländischen InvestorInnen immer beliebter. Das habe vor allem zwei Gründe: «Zum einen ist China als Produktionsstandort durch Corona unattraktiver geworden», sagt der Unternehmer. Da habe sich bemerkbar gemacht, dass China im Zweifelsfall einfach sehr weit entfernt sei. Zum anderen sei die Türkei gerade günstig: Je mehr die türkische Lira an Wert verliere, umso attraktiver sei das Land für InvestorInnen. Das gelte auch für die Produktion: «Wer hier investiert, stellt günstig her und kann danach teurer in andere Länder verkaufen.» Mittlerweile sei die Türkei zu einem der günstigsten unter den aufstrebenden Märkten geworden. Mittelfristig könne dies gut gegen die Inflation sein, kurzfristig aber sei der Bevölkerung damit nicht geholfen, im Gegenteil: «Der Kaufkraftverlust gegenüber dem Euro ist in den vergangenen zwei bis drei Jahren um vierzig Prozent gestiegen, was wahnsinnig ist.»

Neslihan Simsek bekommt das täglich zu spüren. Mit einem eingeübt wirkenden Lächeln auf den Lippen sagt sie: «Ich überlebe für meine Kinder, für sie muss ich stark sein.» Die Familie habe sich an die Situation gewöhnt, meint die Frau und erklärt: «Wir Türken sind sehr leidensfähig. Ich weine zwar oft. Aber ich sage dann: Gott sei Dank, wir sind gesund und leben.» Dann ginge es ihr besser und sie mache weiter. Eine andere Möglichkeit hat die Mutter aus Istanbul ohnehin nicht.